November 10, 2024

Corona und Menschenrechte

Mit mehrerlei Maß

von Rudolf Buntzel

Die Bundesregierung macht Politik nach Ethik und Moral: Vizekanzler Scholz – seinerzeit in Vertretung der sich in Quarantäne befindlichen Bundeskanzlerin – findet es unerträglich, den Verlust von Menschenleben in Kauf zu nehmen, damit die Wirtschaft wieder in Gang kommt. Damit konterkariert er Forderungen wirtschaftsnaher Kreise, die auf eine Lockerung der Corona-Beschränkungen drängen. Es geht um die Lebensrettung von Bundesbürgern! Geht es um die Sorgfaltspflichten deutscher Unternehmen im Umgang mit Menschenrechten anderswo, ist die Bundesregierung nicht ganz so moralisch. Wollten doch die beiden Minister Heil (SPD) und Müller (CSU) am 6. März 2020 ihre gemeinsam ausgehandelten Eckpunkte für ein sog. „Lieferkettengesetz“ vorstellen, bei dem es um die weltweite Einhaltung der Menschenrechte in den globalen Wirtschaftsbeziehungen unserer Konzerne geht. Die Pressekonferenz wurde in letzter Minute vom Bundeskanzleramt abgesagt. In Zeiten einer Krise wie diese hätten wir andere Sorgen, so hieß es. /1/

Zählen die Millionen von Opfer internationaler Ausbeutung, der Kinderarbeit im Kakaoanbau an der Elfenbeinküste, der sklavenähnlichen Verhältnisse in den Textilfabriken Bangladeshs oder der 272 Ertrunkenen des vom TÜV-Süd geprüften Staudamms der Vande-Mine in Brasilien nach dessen Bruch nicht zu den Arten von Sorgen, die auch unsere Gesellschaft betreffen? Schließlich haben wir davon profitiert. Die Geschäfte sind zwar global, die Sorge um das Wohlergeben derer, die für uns im Ausland schuften, macht aber an der deutschen Grenze Halt. /2/

Das Lieferkettengesetz soll nach Vorgabe der UN die Menschenrechtserklärung „Wirtschaft und Menschenrechte“, die Deutschland auf internationaler Ebene mit verabschiedet hat, in deutsches Recht umsetzen. Die dort verlangten „Sorgfaltspflichten“ für deutsche Konzerne sollen endlich verbindlich werden.  Die Verbände der deutschen privaten Wirtschaft sind strikt gegen eine solche bindende Gesetzesinitiative. Sie meinen, die deutschen Konzerne täten schon genug, und eine freiwillige Selbstverpflichtung sei am effektivsten. /3/

Dagegen hat sich eine große entwicklungspolitische Kampagne mit mehr als 90 NGOs in der Bundesrepublik gebildet, die sog. „Initiative Lieferkettengesetz“, die sich für die Verabschiedung eines solchen Gesetzes einsetzt.  Link:  www.lieferkettengesetz.de 

Vom Freiwilligkeitsprinzip im Umgang mit Corona ist aber die deutsche Politik schnell abgekommen. Selbst ein Herr Söder, der noch bis vor kurzem den Grünen vorwarf, eine reine „Verbotspartei“ zu sein,  war der erste, der als Vorreiter die schärfsten gesetzlichen Eingriffe der Nachkriegszeit in den Lauf und das Funktionieren der Wirtschaft vornahm. 

Die Corona-Krise zieht alle, Politik und Medien, in den Bann; alle anderen Entscheidungsbereiche unsere Gesellschaft betreffend verblassen dagegen. Diese Krise bietet eine willkommene Gelegenheit, Reformvorhaben abzuwiegeln.  Es gibt kein anderes Thema mehr, alles andere wird klein und unwichtig. Selbst die Menschenrechte werden relativiert.

Die gigantischen Summen, die der öffentliche Sektor zur Krisenbewältigung mobilisiert, verschlagen einem den Atem. All das viele Geld ist plötzlich da, das vorher nicht zur Verfügung stand, selbst für die wichtigsten Angelegenheiten nicht, wie z.B. das Leid der Flüchtlinge zu mildern, die Grundrente für die Ärmsten in unserer Gesellschaft zu finanzieren oder die marode Schulinfrastruktur auszubessern. Keine schwarze Null steht dem mehr im Wege. Das erweckt den Eindruck, wenn die Politik nur will, hat sie unbegrenzte Möglichkeiten.

Schnell und unbürokratisch soll die Hilfe an die Wirtschaftsunternehmen abgewickelt werden. Das ist sehr löblich. Aber eine Prüfung wird es doch geben: die betriebswirtschaftliche Begutachtun g durch die zwischengeschalteten Geschäftsbanken. Riesige Bürgschaftssummen – abgesichert durch den Steuerzahler – stützen ansonsten jede Art der Wirtschaftstätigkeit, unabhängig von der Zukunftsfähigkeit ihres Produkts oder ihrer Rücksichtnahme auf soziale oder ökologische Belange in den Lieferketten. Ist eine Bürgschaft von 1,5 Mrd. EURO für einen Konzern wie TUI wirklich gesellschaftlich akzeptabel, wo der massenhafte Ferntourismus aus vielerlei Gründen umstritten ist?

Wenn die Corona-Gefahr einmal gebannt sein sollte, werden wir in vielen Dingen nicht wieder einfach so zum Status-quo-ante zurückkehren können. Es wird sich, so ist zu hoffen, die bisherige Akzeptanz der Verhältnisse ändern. Unsere Gesellschaft hat einen Bewusstseinswandel miterlebt.  Zum Beispiel im Hinblick auf die Globalisierung, von der unsere Wirtschaft bisher so stark profitiert hat. Wir erkennen, dass sie uns auch abhängig und anfällig macht und ihre Grenzen hat, auch und vor allem bezüglich gesundheitlicher, menschenrechtlicher und ökologischer Folgen.

Das Mantra „Der Markt wird’s schon richten“ – einschließlich der freiwilligen Selbstverpflichtung der Wirtschaft – wird seine bisherige Wirkung nach der Krise verlieren. Man wird staatlicher Regulierung nicht mehr mit dem gewohnten Vorbehalt begegnen, wenn es um Problemlösungen geht, die sich aus den grundlegenden Strukturen von Wirtschaft und Gesellschaft ergeben.

Die längst überfällige Verabschiedung eines Gesetzes, das die Einhaltung von verbrieften Menschenrechten in den globalen Lieferketten zur Verpflichtung unserer Unternehmen macht, wird einer der Prüfsteine sein, ob wir die richtigen Lehren aus der Krise gezogen haben.