März 19, 2024

Demokratie zwischen “Rechtsstaat” und “Unrechtsstaat”

von Uta Sändig

Wer die Demokratiebereitschaft der Menschen erhöhen will,

muss bereit sein, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern.

Demokratie und Erfahrung

In diesen Tagen kursiert wieder der jährliche Bericht über die nach wie vor auffälligen Unterschiede zwischen Ost und West. Ein Teil der Ostdeutschen sei für die Demokratie verloren und die meisten stünden der Politik insgesamt skeptischer gegenüber als ihre westdeutschen Landsleute, heißt es. Das ist eine Symptom-, aber keine Ursachen-beschreibung.

Die DDR, die das Wort “demokratisch” ins Zentrum ihres Staatsnamens gerückt hatte, weckte damit Hoffnungen, die in vielerlei Hinsicht enttäuscht wurden. Ihr Demokratiebegriff war nicht nur an den Begriff Zentralismus gekoppelt, was ein Widerspruch in sich ist, sondern wurde meistens auch als Demokratiespiel im Als-ob-Modus erlebt: Man durfte ein bisschen mitspielen, solange man den staatlich verordneten Mainstream nicht verließ, oder man spielte pro forma mit, um in aller Unauffälligkeit die eigenen Ziele verfolgen zu können. Egal ob Anhänger, Mitläufer oder Spießer, die wirklich wichtigen Häuptlinge waren andere und sie entfernten sich immer weiter von dem, was “das Volk” wollte.

“Das ist doch heute nicht anders”, hört man viele ältere Ostdeutsche sagen und damit Parallelen zur westlichen Demokratiepraxis ziehen. Man kann ihnen nicht verdenken, dass sie auf dieses Déjà-vu mit Misstrauen, Abwehr und dem Gefühl reagieren, auch diesmal verladen zu werden. Das sagt aber noch lange nichts über ihre Demokratiefähigkeit, zeugt dagegen eher von dem in zwei verschiedenen Systemen geschulten Instinkt, zwischen wahrhaftigen und vorgespiegelten Absichten zu unterscheiden. Die Ausgeschlafensten unter ihnen reagieren allergisch auf scheinbar unumstößliche Wahrheiten und sind für keine Art von “reiner Lehre” mehr zu gewinnen, komme sie nun von Rechts- oder auch Linksaußen. Es gibt diese feinen Antennen der älteren Ostdeutschen für Zwischentöne, die zu DDR-Zeiten zum Beispiel eine ausgeprägte Witzkultur hervorbrachten. Nach der Wende ist dieser Instinkt zeitweise in Sprachlosigkeit umgeschlagen. Einer der ersten Nachwendewitze, die wieder an das vertraute subversive Niveau herankamen, lautete: “Frage: Warum brauchen die Wessis nicht 12, sondern 13 Schuljahre bis zum Abitur?  Antwort: Ein Jahr ist Schauspielunterricht.” Tatsächlich erkennt man bis heute viele Westdeutsche – mehrheitlich Männer – an ihrem ausgeprägteren Hang zur Selbstdarstellung, wenn nicht Selbstüberschätzung.

Den heutigen politischen Entscheidungsträgern muss man den Vorwurf machen, den beschriebenen Erfahrungsvorsprung der Ostdeutschen nicht genutzt zu haben, sondern mehrheitlich in alten Vorwende-Denkmustern zu verharren.

Demokratie und Recht

Üblicherweise werden die beiden deutschen Staaten mithilfe der Begriffe “Rechtsstaat” = BRD und “Unrechtsstaat” = DDR unterschieden, die gegenübergestellt werden wie weiß und schwarz, gut und böse, frei und gefangen. Die Definitionsmacht darüber, was genau denn weiß, gut und frei sei und was das Gegenteil davon, wird bis heute vom Westen beansprucht. Die Definitionsmacht ist nun allerdings keine rein ideelle Größe, die man durch geschickte Überzeugungsarbeit etablieren könnte. Wie jede Art von Macht basiert sie auf handfesten materiellen Tatsachen. Wer zahlt, schafft an, weiß schon der Volksmund. Die herrschende Sicht der Dinge ist nicht zu trennen von der Frage, in wessen Händen sich der Reichtum konzentriert, wie das Eigentum verteilt ist, wo sich die Schaltzentralen der Macht befinden und wer da an den Hebeln sitzt. Solange die Antworten überwiegend auf den Westen Deutschlands verweisen, wird man es schwer haben, die behauptete Rechtmäßigkeit der dortigen Sichtweise in Zweifel zu ziehen.

Versuchen muss man es trotzdem: Geschah denn in dem “Unrechtsstaat” DDR ausnahmslos Unrecht? Und triumphierte im “Rechtsstaat” BRD ausnahmslos das Recht, ohne Ansehen der Person? Oder gab es in der DDR nicht doch ganze Lebensbereiche, in denen es ausgesprochen gerecht zuging? Etwa beim Recht auf Wohnen, Bildung, Arbeit? Und ließ diese Art von Gerechtigkeit in der BRD nicht auffällig zu wünschen übrig?

Die Rigorosität, mit der nach der Wende die DDR-Elite kaltgestellt und durch Personal aus der BRD ersetzt wurde, hat das Gerechtigkeitsempfinden vieler Ostdeutscher verletzt. Der Eliteaustausch verlief im Osten nach dem Rasenmäher-Prinzip und verhalf im Westen auch Leuten aus der zweiten und dritten Reihe zu Karrieren, die sie sonst nie im Leben gemacht hätten. Zweifel an der fachlichen und moralischen Eignung von Menschen in Führungspositionen wurden damals nur auf die “Kader” aus dem Osten bezogen. Aber hätte man nicht die Rekrutierung der Elite in beiden Deutschlands unter die Lupe nehmen sollen? Während die DDR unverblümt den “festen Klassenstandpunkt” zu einem Hauptkriterium der Bestenauswahl erklärte, war in der BRD unausgesprochen die soziale Herkunft mit ihrem Beziehungsgeflecht entscheidend. Beide Modi sind einseitig, aber während man den Klassenstandpunkt heucheln konnte, war und ist die soziale Herkunft eine kaum zu umgehende Hürde (wie zuletzt Corona überdeutlich gezeigt hat). 

Den Zusammenhang zwischen ideellem und materiellem Eigentum hat Volker Braun bereits 1990 in einem weitsichtigen Gedicht zur Sprache gebracht:

Das Eigentum

Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen.
KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN.
Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.
Es wirft sich weg und seine magre Zierde.
Dem Winter folgt der Sommer der Begierde.
Und ich kann bleiben wo der Pfeffer wächst.
Und unverständlich wird mein ganzer Text.
Was ich niemals besaß wird mir entrissen.
Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.
Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle.
Wann sag ich wieder mein und meine alle.

Dieses Gedicht hat im Jahr seines Erscheinens – übrigens in über 50 Printmedien (z.B. in: Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn) – viel Aufsehen erregt. In Leserbriefen, im Feuilleton und bei den Literaturkritikern kamen große Ost-West-Unterschiede der Interpretation zum Vorschein. Im Westen wurde der Text eher auf das materielle Eigentum bezogen, das dann eben auch die ideellen Vorstellungen von der Welt prägte. Das sogenannte Volkseigentum, das dem Volk nie wirklich gehört habe, hätte den natürlichen Wunsch nach was Eigenem nie verdrängen können und nun könne es mit der Erfüllung solcher Träume einfach nicht schnell genug gehen. Die Leser im Osten beklagten eher den Verlust einer Utopie, der nicht zuletzt durch das Überangebot an Waren und Sinnesreizen befördert werde, einer Utopie, die sich nun wohl für sehr lange Zeit von selbst erledigt habe.

Das Gedicht ist in viele schulische und sogar universitäre Lehrpläne aufgenommen worden und die Interpretationsangebote reißen bis heute nicht ab (der letzte substantielle Eintrag bei Google stammt von Januar 2021). Bemerkenswert ist, wie sehr sich insbesondere westdeutsche Autoren auch heute noch von dem kurzen Text provoziert fühlen und aggressiver als gewöhnlich auf ihre Deutungshoheit pochen. Ich zitiere Sibylle Wirsing als ein moderates Beispiel: „Das Gedicht schwört, wenn nicht alles täuscht, über die Gegenwart hinweg auf das Ziel, das der sozialistische Staat proklamierte und verfehlte. Im Moment der Offenbarung bekommt es der Leser mit seinen eigenen Zweifeln zu tun. Hat Volker Braun jemals uns alle in sein Mein einbezogen? Auch er genießt … seine Privilegien. Und sei es das Vorrecht, seinen Verlust mit einer Könnerschaft zu betrauern, die nichts zu wünschen übriglässt.“ /1/

Demokratie und Freiheit

BRD und DDR hatten eine sehr unterschiedliche Auffassung von Demokratie.

Allgemein werden damit heute Herrschaftsformen, politische Ordnungen oder politische Systeme beschrieben, in denen Macht und Regierung vom “Volk” ausgehen. (Genau genommen war in vergangenen Zeiten mit “Volk” eine Minderheit gemeint, denn weder die Sklaven noch die Frauen wurden mitgezählt.)

Die heutige offizielle Lesart zum Thema Demokratie in der DDR lautet: Der Begriff sei ein dreister Etikettenschwindel gewesen, denn es habe sich um eine reine Parteidiktatur gehandelt.

Dagegen besagte die offizielle Lehrmeinung der DDR: Mit der Diktatur des Proletariats sei erstmals eine Diktatur der Mehrheit über die anderen Klassen und Schichten realisiert worden; der Arbeiter- und Bauernstaat habe seine besten Köpfe in eine Einheitspartei entsandt, die “im Namen des Volkes” als Führungselite fungierte. Es gehe also um eine demokratisch legitimierte und zentral gesteuerte Machtausübung.

Während die zentrale Steuerung funktionierte, krankte die praktische Entfaltung der Demokratie zunehmend an strukturellen, ideologischen und personellen Schwachstellen, die eine echte demokratische Teilhabe der Mehrheit an der Macht verhinderten. Andererseits aber wurde die Überzeugung der zur Diktatur berufenen Klasse – „Ich bin Arbeiter, wer ist mehr!“ – bis zu einem gewissen Grad Teil der Mentalität der arbeitenden Bevölkerung.  Mit anderen Worten: Die Werktätigen haben sich zumindest am Arbeitsplatz mehr herausnehmen können als im Westen.

Hier zwei simple Beispiele: Als sich die Kammgarnspinnerei in meiner Heimatstadt Brandenburg an der Havel moderne französische Spinnmaschinen zulegte, waren die Arbeiterinnen begeistert. Als sie aber feststellten, dass die Maschinen mit einem Zählwerk versehen waren, das die Pausenzeiten der einzelnen Bedienerinnen auf die Sekunde genau registrierte, erzwangen sie ein Abschalten dieses Zählwerks. Begründung: Pinkelpausen zu normieren sei unmenschlich und die Stillstandszeiten wegen Bagatell- Reparaturen (wie dem Knüpfen gerissener Fäden) mit der Arbeitszeit zu verrechnen sei ungerecht.

Beispiel 2: Wer eine Neubauwohnung bezog, wurde üblicherweise in die kollektive Endreinigung des Objektes einbezogen. Zum Schluss durfte man eine Mängelliste an die Wohnungstür heften. Meine Liste umfasste immerhin 8 Punkte. Einer der Handwerker hatte mit dickem Rotstift daruntergeschrieben: “Perserteppich und Farbfernseher werden nachgeliefert.” Er fühlte sich völlig im Recht.

Tatsächlich war nach der Wende eines der ersten Aha-Erlebnisse der Menschen in den Produktionsbetrieben, dass sie jetzt auf der Arbeit maximal zu kuschen hatten (sofern ihr Arbeitsplatz nicht ohnehin gleich abgewickelt worden war). Eine andere elementare Erfahrung war, dass man jetzt zwar alles sagen durfte, das meiste aber gänzlich folgenlos blieb. In der DDR brachte die Ankündigung, sich “ganz oben” beschweren zu wollen, manchmal die gesamte Partei- und Staatsführung in Verlegenheit und Zugzwang, besonders wenn die Beschwerde als kollektiv verfasster Brief daherkam und seriös auf konkrete Versprechungen der Partei Bezug nahm. Da war dann selbst die Stasi machtlos.

Zum Beispiel soll sich einmal eine ganze Staatsrats-Sitzung der Unterversorgung der Bevölkerung mit Zahnbürsten angenommen haben. Ein anderes Mal bewirkten Massenproteste, dass die DDR-Kreation “Kaffee-Mix” sang- und klanglos vom Markt genommen werden musste. “Kaffee-Mix”, spöttisch als “Erichs Krönung” bezeichnet, war eine Fifty-fifty-Mischung aus Bohnenkaffee und heimischem Muckefuck, um Devisen zu sparen.

Manches, was die Regierung für nützlich und notwendig befunden hatte, wurde diesem Ruf aber tatsächlich gerecht und die Bevölkerung sah die damit verbundenen Freiheiten bald als selbstverständlich an: den Anspruch auf eine bezahlbare Wohnung, die ärztliche Versorgung in einer Poliklinik, die Bereitstellung eines Krippen-, Kindergarten- und Hortplatzes für jedes Kind, die Gemeinschaftsschule. Der Zusammenhang zwischen diesen Selbstverständlichkeiten und z.B. der durchschnittlich höheren Kinderzahl pro Frau liegt auf der Hand – wobei diese Kinder garantiert gewollt waren, denn Schwangerschafts-abbrüche waren, anders als in der BRD, ohne jede Kriminalisierung möglich.

Es liegt mir fern, diese Beispiele als Ausdruck besonderer Freiheit überzubewerten. Als Beispiele für typische Unfreiheiten können sie aber auch nicht herhalten. Tatsache ist, dass bei der Fremdbewertung des DDR-Alltags nach wie vor die Zwischentöne zu wenig beachtet werden. “Ihr habt doch alle ein Doppelleben zwischen öffentlicher und privater Meinung geführt”, heißt es zum Beispiel. Dass uns diese Art, seine ehrliche Meinung nur im Kreise vertrauenswürdiger Freunde zu äußern, in Fleisch und Blut übergegangen war, ist eine Tatsache. Aber es stimmt auch, dass wir kollektiv einen feinen Instinkt dafür entwickelt hatten, wem man besser aus dem Weg gehen sollte und in welchen Kontexten man über die Stränge schlagen konnte. Ich selbst war beruflich in einer Nische gelandet, wo man sich fast uneingeschränkt gehen lassen konnte, bemerkte aber erst spät, dass das nicht überall so war.

Demokratie und ihre Profiteure

Nach der Wende bewahrheitete sich alsbald Großmutters Satz: “Schaum schwimmt überall oben.” Es dauerte nämlich nicht lange, bis sich die geborenen Zuträger und “Anschwärzer” aus beiden Deutschlands als ihresgleichen erkannten und verbrüderten. Ich vereinfache und übertreibe hier mal um der Verdeutlichung willen: Wer spitzeln und petzen konnte, hatte meist auch keine Skrupel, sich jetzt im Mobben zu versuchen. Und wer im Westen die Vorteile der „Spezlwirtschaft“ genossen hatte, empörte sich höchstens pro forma über die Seilschaften aus dem Osten. Es sei denn, er/sie gehörte zu den Scheinheiligen, die sich wie der biblische Pharisäer in der Attitüde gefielen: “Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Menschen …”  

Wer, wie ich, seit 1990 gesamtdeutsche Ehrenämter innehatte, die einen intensiven Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen auch aus dem Westen schnell zur Normalität werden ließen, hatte früh Gelegenheit, die Anpassungsrituale der Ostdeutschen mit denen der Westdeutschen zu vergleichen, einschließlich solcher Eigenschaften wie Mut, Selbstbehauptung, Kompromissbereitschaft, aber ebenso Opportunismus und Unterwürfigkeit – mit dem Ergebnis: Die Unterschiede sind geringer als vermutet. Die Bereitschaft zu demokratischen Denk- und Handlungsmustern hält sich hüben wie drüben in Grenzen und das Fehlen einer solchen Bereitschaft wird als eher förderlich für die individuelle Karriere erlebt. 

Demokratie und Mentalität

Vieles spricht dafür, von einer typisch deutschen Mentalität zu sprechen, der auch die beiden unterschiedlichen Gesellschaftssysteme nicht viel anhaben konnten und der die Demokratiefähigkeit erst abgetrotzt werden muss. Wobei die Lernwege für Ostdeutsche wohl doch etwas länger und steiniger sind.

Ist Demokratiefähigkeit also auch eine Frage der Mentalität? Dieser schillernde Begriff wird in der Gegenwart wieder stärker frequentiert und rückt Parameter wie Herkunft, Geschichte, geografische Bedingungen, Sprache, Produktionsweise, Religion/ Weltanschauung, Rolle der Arbeit, Bildung und Kunst, Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sowie Habitus in den Vordergrund.

Mentalität wird meistens zuerst über Klischees kommuniziert, die wohl für jedes Land existieren. Die Deutschen seien leistungs- und wettbewerbsorientiert, diszipliniert, pünktlich, regelfixiert, heißt es. Sie gelten als staatshörige Untertanen und als ziemlich humorlos. Im Ausland sind Wörter wie ‘German Angst’, ‘Gemütlichkeit’, ‘deutsche Innerlichkeit’ und ‘Weltschmerz’ zu stehenden Begriffen geworden, quasi unübersetzbar. (Einen interessanten Problemaufriss findet man bei: Hans-Dieter Gelfert 2005: Was ist deutsch? Wie die Deutschen wurden, was sie sind (Beck’sche Reihe) ISBN-13978-3406528316.)

Ohne auf diese Impulse im Einzelnen eingehen zu können, sei doch festgehalten, dass 40 Jahre getrennte Geschichte nicht ausgereicht haben, um zwischen Ost und West große Mentalitätsunterschiede entstehen zu lassen. Umso bemerkenswerter sind die kleinen. Sie drücken sich zum Beispiel darin aus, dass ein Mensch im Westen eher über seinen Besitz definiert wird und im Osten eher über seine Fähigkeit, Situationen pragmatisch zu meistern. “Haste was, biste was”, sagt der Wessi. “Kannste was, biste was”, kontert der gelernte Ossi.

Was ist dran an der Behauptung, im Westen seien die sogenannten “traditionell-christlichen Werte” besser verankert, denn der “verordnete Atheismus” der DDR habe die Menschen dort zu einem profanen Materialismus ohne klaren Wertekanon erzogen? Das ist, mit Verlaub, Bullshit. Abgesehen davon, dass diese Werte mehrheitlich viel älter sind als das Christentum, gibt es kein einziges Indiz dafür, dass der Glaube an eine überirdische Macht die besseren Menschen hervorbringt.

Tucholsky schrieb in seinem berühmten “Brief an eine Katholikin”, bezugnehmend auf deren Vorwurf, er verletze ihre religiösen Empfindungen: “Halten Sie es für richtig, wenn fortgesetzt eine breite Schicht des deutschen Volkes als ›sittenlos‹, ›angefressen‹, ›lasterhaft‹, ›heidnisch‹ hingestellt und mit Vokabeln gebrandmarkt wird, die nur deshalb nicht treffen, weil sie einer vergangenen Zeit entlehnt sind? Nehmt ihr auf unsere Empfindungen Rücksicht?” (in: Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 8, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 35-41) /2/

Verschiedene Studien ermitteln regelmäßig die Rangfolge ethisch-moralischer Werte, auf die die Bundesbürger (zunächst getrennt nach Ost und West) am meisten Wert legen. 2008 standen im Osten auf den Plätzen 1-4 Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Gerechtigkeit und Solidarität, im Westen Freiheit, Erfolg, Sicherheit und Ehrlichkeit. Eher als im Westen vertiefte sich im Osten der Trend, Lebenssinn auf einen individuell definierten Sinnhorizont zu beziehen, der vor allem ein erquickliches Zusammenleben in der Familie und im Freundeskreis beinhaltet. (Siehe z.B. Wie sich die Werte der Deutschen verändert haben. /3/ und verschiedene EMNID-Umfragen.)

Apropos Solidarität: Sie kommt im Westen viel häufiger in der Form von Sponsoring und Charity vor. Der Unterschied: Solidarität setzt Augenhöhe voraus, während Sponsoren und Mäzene auf der Basis hierarchischer Verhältnisse agieren, in denen sie das Sagen haben. Gerade in diesen Tagen wird die “überwältigende Solidarität” der Deutschen für die Opfer der Flutkatastrophe in Süddeutschland gefeiert. Harte Frage: Geht es um Solidarität oder um Ablasshandel, sprich: um die Illusion, sich von den eigenen Umweltsünden freikaufen zu können, indem man die Folgen seiner Sünden, die diesmal andere trafen, mit Geld aufwiegt.

In einem weiteren Bereich hat sich Mentalität unterschiedlich entfaltet: Es geht um die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Nach wie vor definieren sich viele Ostfrauen über ihren in Vollzeit ausgeübten Beruf, ohne auf Kind(er) und Mann zu verzichten. Sie agieren im Bereich von Partnerschaft und Sexualität selbstbestimmter und weniger verklemmt. Sie lassen sich nicht so leicht unterbuttern. Sie halten die Feindschaft zu Männern für unproduktiv und bauschen das Gendersternchen nicht zu ihrem Lebensinhalt auf.

Offenbar hängt das Wertebewusstsein der Menschen, ihre Bereitschaft, bestimmte Charakterzüge zu entfalten und andere verkümmern zu lassen, weniger von ihrer religiösen bzw. weltanschaulichen Orientierung ab und mehr von den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen sie lebten bzw. leben.

Demokratie und psychosoziale Disposition

Seit einigen Jahren wird der Demokratiebegriff nicht nur als Gegenstand politikwissenschaftlicher, historischer und philosophischer Betrachtungen unter die Lupe genommen, sondern auch soziologisch und sozialpsychologisch durchleuchtet. Offenbar gibt es eine Begabung zur Demokratie, wie es eine musische oder mathematische Begabung, eine Sprach- oder Fußballbegabung gibt. Darüber hinaus fördern oder erschweren charakterliche, psychische und soziale Faktoren die Demokratiebereitschaft. Zu fragen ist, in welchen sozialen Milieus, welchem gesellschaftlichen Klima Eigenschaften wie die folgenden gefragt sind: die Bereitschaft, andere Meinungen gelassen anzuhören, Erkenntnisse als vorläufig zu betrachten, scheinbar dauerhafte Wahrheiten zu relativieren. Wo würdigt man die Fähigkeit zur Kompromissbildung und zum Perspektivenwechsel sowie eine weitgehende Vorurteilsfreiheit? Unter welchen Bedingungen gedeiht die Fähigkeit, uneigennützig und uneitel zu agieren? Der aggressive, auf Wettbewerb und falsch verstandenes Wachstum getrimmte Neoliberalismus jedenfalls fördert viele dieser Eigenschaften nicht, im Gegenteil. Im Bild von der “allseits gebildeten sozialistischen Persönlichkeit” hatten einige dieser Charakterzüge allerdings auch keinen Platz. Natürlich kann man sie bis zu einem gewissen Grade trotzdem institutionell wie auch im Familien- und Freundeskreis pflegen und entwickeln, aber letztlich reicht die schönste Disposition nicht aus, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht Demokratie-affin sind. (Zu empfehlen: Götz Eisenberg 2018: Zwischen Anarchismus und Populismus: Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus, Band 3, ISBN: 9783981819533,) /4/

Demokratie und ihre Erosion im entfesselten Kapitalismus

Und das sind sie nicht! Seit längerer Zeit erodiert die Demokratie, indem wichtige Entscheidungen in Kreisen getroffen werden, die sich längst an keine demokratischen Spielregeln mehr halten. Konzernchefs, Bankdirektoren, Versicherungsunternehmer, Lobbyisten – sie alle spielen nach ihren eigenen Regeln, entmachten damit die gewählten Volksvertreter und schwächen sowohl die Exekutive als auch die Legislative und Judikative bzw. vermischen deren Befugnisse. Welche Folgen es hat, wenn die Gewaltenteilung nicht funktioniert bzw. kein entsprechendes Prinzip existiert, dafür hat die DDR viele unrühmliche Beispiele geliefert. Gegenwärtig werden – mit anderen ideologischen Vorzeichen und einer unvergleichlich größeren finanziellen Macht – die Demokratie und ihre gutwilligen, um Wahrhaftigkeit bemühten Anhänger lächerlich gemacht. Dem setzen wir unsere Forderungen entgegen: 

Der Erfahrungsvorsprung, den die Ostdeutschen der mittleren und älteren Generation durch ihr Leben in zwei Gesellschaftssystemen haben, ist bislang nur unzureichend kommuniziert worden. Noch lässt sich das ändern.

Wir fordern die Umgestaltung unseres Systems hin zu einer echten Demokratie: mehr direkte Mitbestimmung, Förderung basisdemokratischer Aktivitäten, transparente Willensbildungsprozesse, weniger Ungleichmacherei per Lohntüte, Gleichbehandlung bei Sanktionen.

Wir fordern, dass sich die Zusammensetzung der Führungselite an der Stärke der sozialen Kassen bzw. Gruppen orientiert. Dazu soll ein demokratischer Kontrollmechanismus Schritt für Schritt eingeführt werden.

Mentalität und psychosoziale Disposition sind als vorwiegend ideelle Phänomene einem langsamen Wandel zugänglich. Mehr Mut zum eigenen Urteil, weniger Untertanengeist! Altruismus statt Egoismus! Gemeinschaftssinn statt Individualismus!

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