Ein Kommentar von Andreas Butt-Weise
Zugegeben, es gibt keinen Hurra-Patriotismus und keine Kriegseuphorie, die wie 1914 die Bevölkerung und das Parlament erfasste. Keiner in der Bundesrepublik stürzt sich mit Hurra ins große Gemetzel, doch angesichts der großen Einigkeit, die am 27.02.2022 im Bundestag unter den Parlamentariern herrschte, musste man sich schon die Augen reiben. Dass der Vorschlag, Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet zuzulassen (Stinger-Raketen und Panzerabwehrgeschütze für die Ukraine), den Militärhaushalts auf über 2% des BIP aufzustocken und ein 100 Milliarden schweres Sondervermögen für die Bundeswehr einzurichten, das im Grundgesetz abgesichert werden soll, mit einem minutenlangen Applaus quittiert wurde, lässt schon daran denken, dass wir ab heute „keine Parteien mehr kennen, sondern nur noch Deutsche“.
Heute wie damals brennt es auf unserem Kontinent und das „alte“ Europa zerbricht: Europa steht vor den Trümmern des zerrütteten Verhältnisses zu Russland. Mit diesem völkerrechtswidrigen Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine endet die Hoffnung auf eine Eurasische Wirtschaftsunion und eine Europäische Friedens- und Sicherheitsordnung auf eine tragische Art und Weise.
Mit dem Beschluss Waffen in die Ukraine zu liefern, begeht die Bundesregierung eine historische Kehrtwende: Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet waren „offiziell“ bisher immer ein Tabu. Angesichts der Tatsache, dass die neue Bundesregierung vorhatte zügig ein sog. Rüstungsexportkontrollgesetz (REKG) auf den Weg zu bringen, ist es besonders unverständlich, wenn Olaf Scholz nun diese Maßnahme ergreift.
Aber ist diese Aufstockung des Wehretats wirklich notwendig? In den vergangenen Jahren sind die Militärausgaben stetig angestiegen: 2014 betrug der Etat noch 32,4 Milliarden Euro, erhöhte sich bis 2017 auf 37 Milliarden Euro und lag 2019 bei 43,2 Milliarden Euro. Mit 52,8 Milliarden US-Dollar rangiert Deutschland 2021 auf Platz 7 der Länder mit den weltweit höchsten Militärausgaben.
Die USA gibt jährlich 778 Milliarden US-Dollar aus. Während die Nato 2020 insgesamt geschätzt rund 1.028 Milliarden US-Dollar ausgab, lag der Militärhaushalt Russlands bei 61,7 Milliarden US-Dollar.
In der Zeit des „kalten Krieges“ wurde dieses Ungleichgewicht militärischer Stärke durch das „Gleichgewicht des Schreckens“ – die atomare Aufrüstung aufseiten der USA und der Sowjetunion – ausgeglichen. Dieses Schreckensszenario bedient Putin auch heute wieder, indem er erklärte, dass die russischen Atomstreitkräfte (Abschreckungskräfte) in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt werden sollen!
Die neue Aufrüstungswelle ist der falsche Weg!
Die Bundeswehr ist bisher eine Parlamentsarmee. Ihre Arbeit, ihre Auslandseinsätze und ihr Haushalt müssen vom Bundestag beschlossen und kontrolliert werden. Es ist zu befürchten, dass ein großer Teil ihrer Ausgaben durch einen neuen, zwar im Grundgesetz verankerten Fonds sicherzustellen, diese Rechte untergräbt. Auch das Recht der Abgeordneten, irgendwann einmal wieder andere Prioritäten zu setzen, könnte dadurch beschränkt werden. Es besteht die ernste Gefahr, dass mit dem 100 Milliarden „Sondervermögen“ das Parlament die Kontrolle über die Bundeswehr verliert.
Die Bundesregierung und mit ihr der größte Gewinner dieses Krieges, die Rüstungsindustrie, – Aktienkurse steigen bei Thyssen-Krupp und Rheinmetall um mehr als 5% in wenigen Tagen – nutzt diese Dynamik, um milliardenschwere Investitionen in die Bundeswehr zu pumpen, um nur mehr Waffen für künftige Kriege anzuschaffen.
Ist das die Antwort der Baby-Boomer, die in den 1980er Jahren als Schülerinnen und Studierende sich in der Friedensbewegung und Umweltbewegung engagierten? Haben sie die Zeit vergessen, als sie ein starkes politisch-gesellschaftliches Engagement für Frieden und Umwelt an den Tag legten? Ist das die „richtige“ Antwort der Kriegsenkel auf die unverarbeiteten psychischen Traumata, die ihre Eltern und Großeltern während der NS-, Kriegs- und frühen Nachkriegszeit erlittenen hatten und durch die sie indirekt auch traumatisiert wurden? Ich meine NEIN! Die „transgenerationale Weitergabe kriegsbedingter Belastungen“ sollte uns an die Verpflichtung gemahnen, den Krieg als notweniges Mittel der Diplomatie abzulehnen und mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, Kriege zu verhindern.
KLARTEXT: Keine Wiederbelebung einer Aufrüstungsspirale durch die Bundesrepublik! Für ein Europa der Abrüstung, der Entspannung und der Verständigung!
Wir sind eine Generation, die selbst nie Krieg erleben mussten. Wir sind eine Generation, die Krieg nur als „Stellvertreterkriege“ zwischen den Machtblöcken USA-Sowjetunion auf anderen Kontinenten, weit-weit weg von uns, vermittelt durch die Medien, „erleben“ mussten. Wir konnten uns von unserer „Wohlstandshängematte“ aus eine Meinung und ein Urteil bilden.
Wenn nun heute Stimmen laut werden, die von einer Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents, einen Angriff auf die europäische Nachkriegsordnung sprechen, sprechen sie nur die „halbe“ Wahrheit. Denn nicht der heutige Krieg ist der erste, der in unserem „Wohnzimmer“ stattfindet: Der Kosovo-Krieg war der erste Krieg. Der Kosovo-Krieg war einer der ersten Kriege an dem sich die Bundesrepublik nach 1945 aktiv beteiligte und der „ironischer“ Weise auch von einer rot-grünen Regierungskoalition geführt wurde. Ein Krieg, der mit einer humanitären Begründung begann – Vertreibung und Flucht zu stoppen und im Kosovo wieder ein multiethnisches Zusammenleben möglich zu machen – endete mit Luftangriffen auf Belgrad, die auch von der rot-grünen Bundesregierung befürwortet wurden. Mit diesen Luftschlägen radikalisierten die serbischen Kräfte ihren Vertreibungsterror und die Nato-Intervention endete mit erheblichen zivilen Opfern, Zerstörungen und ökologischen Verseuchungen auf serbischer Seite. Offenbar wurde die zivile Gesellschaft mehr getroffen als das serbische Militär.
KLARTEXT: Keine weitere Nato-Osterweiterung und keine Militärmanöver an der russischen Westgrenze! Für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur und ein Ende jeder Großmachtpolitik!
Dieser von einer rot-grünen Bundesregierung mitverantwortete Luftkrieg, der auch ohne Uno-Mandat und der damit völkerrechtswidrig geführt wurde, kann als „Steilvorlage“ für Putin gelten. Wenn sich die USA, Europa und Nato an keine Völkerrechtsregeln halten musste, warum dann er? Doch weder dieses eindeutige Vergehen noch der Wortbruch, die Nato nicht bis an die russische Grenze auszudehnen, können als eine Rechtfertigung für einen Angriffskrieg auf die Ukraine, den Versuch Ländergrenzen zu verschieben, Regierungen zu stürzen, herhalten. Auch wer einräumt, dass dieser Krieg durch nichts zu rechtfertigen sei, dann jedoch zu einem großen Aber ansetzt, um vor allem die Fehler, Lügen und Kriege des „Westens“ aufzuzählen, hat nicht begriffen, dass auch der Potentat im Kreml imperialistische Interessen verfolgt.
Es kann nicht sein, dass man, verblendet durch eine (linke) Romantik, Russland nicht als ein kapitalistisches Land wahrnehmen will, das wie alle kapitalistischen Länder einer imperialistischen Logik folgt. Ein ausschließlicher Anti-Nato- und Anti-USA-Blick verklärt die Machtansprüche der aktuellen russischen Regierung. Auch hier gilt: Der Feind des Feindes ist nicht automatisch ein Freund! Putin ist nicht mehr der Putin vom 25.09.2001, der im deutschen Bundestag, erklärte, dass „unter allem das starke und lebendige Herz Russlands schlägt, welches für eine vollwertige Zusammenarbeit und Partnerschaft geöffnet ist.“ Zitat
Aus der ausgestreckten Hand ist eine Faust geworden. Was könnte hinter diesem anachronistischen Rückfall in eine Gewaltpolitik stecken? Es ist nicht Ausdruck von Stärke, sondern Ausdruck von Schwäche. Dieser Überfall steht dafür, dass Putin durch die Ingangsetzung seiner Kriegsmaschinerie auch innenpolitisch von einem gewaltigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierungsdefizit ablenken will. Dieser nicht stattgefundene „Aufbau einer demokratischen Gesellschaft und einer Marktwirtschaft“ Zitat wurde und wird weiter durch die westlichen Sanktionen verschärft. Dieser Zustand der russischen Wirtschaft und Gesellschaft lässt eine erschreckende Zukunftslosigkeit erahnen. Es zeugt von einem gescheiterten Aufbruch in eine postsozialistische Moderne, einen nicht stattgefundenen Wandel in eine demokratische Gesellschaft mit einer Wirtschaft, die nicht nur ihre Fundamente in der Waffenproduktion und dem Verkauf von Rohstoffen, sondern in einer am Konsum orientierten Friedensindustrie hat. Hiervon zeugt das russische BIP, das unter dem von Italien angesiedelt ist: 1.478,57 Milliarden US-Dollar. Zitat
Neben den fehlenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen ist auch die Konsequenz der „ausgeschlagenen Hand“ und der damit einhergehende ideologische Wandel von Putin nicht zu unterschätzen: das Ziel einer europäischen Friedensordnung, die Annäherung Russlands und Europas, das nicht erreicht wurde, führte bei Putin zu einem Rückgriff auf die „Russische Idee“. Mit dieser von Alexander Dugin – einem der zentralen Figuren und Stichwortgeber auch der hiesigen extremen Rechten – aktualisierten Ideologie möchte Putin vor allem die innere Stärke Russlands mobilisieren. Diese Ideologie hat drei Säulen: eine konservative und autoritäre Doktrin zum Gebrauch im Inneren, eine von den Panslawisten inspirierten Theorie des „russischen Weges“ mit der Vision einer eurasischen Zukunft. Hierbei dient die „Eurasische Idee“ Putin als Anknüpfungspunkt für die Wiederherstellung, Durchsetzung und Festigung des russischen Führungsanspruchs im gesamten postsowjetischen Raum unter Einsatz mal hegemonialer, mal imperialer Mittel. Zitat
KLARTEXT: Keine weitere Verletzung der territorialen Integrität und Souveränität der Ukraine! Für eine sofortige Beendigung des russischen Angriffskrieges und Rückzug aller russischen Truppen!
Doch machen wir uns nichts vor. Die weiteren verschärften wirtschaftlichen Sanktionen – der Ausschluss aus dem weltweiten Banksystem SWIFT, das Ende von Nordstream 2 und weiterer Rohstoffimporte aus Russland haben nicht nur Konsequenzen in Russland. Nein, auch in Europa und der Bundesrepublik wird es Einschränkungen geben, die wir hinnehmen müssen: „Deutschland sei ‘bereit, dafür einen hohen wirtschaftlichen Preis zu zahlen’“ (Baerbock).
Wen hatte da unsere grüne Außenministerin im Auge? Wer ist das WIR? War ihr in dem Moment ihrer Rede klar, dass es vor allem für untere und mittlere Einkommen, und natürlich den Hartz4-Empfängern, diese angekündigten „Einschränkungen“ am Deutlichsten spürbar sein werden? Die schon heute sichtbare Inflation im Januar 2022 von +4,9 %% sowie die erhöhten Benzin- und Gaspreise belasten heute die Bürger in unserem Land.
Was ist also zu tun und was zu fordern in der aktuellen Bedrohungslage?
Wir sind an der Seite der vor dem Krieg aus der Ukraine Flüchtenden!
Wir sind an der Seite der ukrainischen und russischen Soldaten, die ihr Leben für einen „unnötigen Krieg“ hergeben müssen!
Wir sind an der Seite der Mütter, Väter, Brüder und Schwestern, die in diesem Krieg ihre Nächsten verlieren!
Unsere Solidarität gilt denjenigen, die desertieren, und denjenigen, die gegen alle Repressionen in russischen Städten gegen den Krieg demonstrieren.
Wir hoffen, dass Putin mit seinem imperialistischen Krieg genau das Gegenteil von dem erreicht, was er erreichen will, und damit die Friedens- und Demokratiebewegung in seinem Land stärkt. Wir sind auf der Seite der russischen Demonstranten, die es sich trauen gegen den Krieg auf die Straße zu gehen. Wir hoffen auf eine weltweite Stärkung der Friedens- und Demokratiebewegungen.
In vielen Städten Russlands fanden Friedensdemonstrationen statt, bei denen es in den ersten Tagen des Krieges laut der im Netz kursierenden Berichte mehr als 1.800 Verhaftete gegeben hat. Die Proteste, die ein für Russland ungewöhnliches Ausmaß erreichen, zeigen deutlich, das was eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Levada bestätigt: die Jüngeren zwischen 18 und 24 Jahren (33 Prozent) fordern eine innerukrainische Lösung der Probleme der Region ohne russische Einmischung. Sie sehen in derartigen imperialistischen Kriegen keine gute Seite und verurteilen den Missbrauch des Leidens der Menschen als Instrument der Politik der Oligarchien. In ähnlichem Sinne haben 5.000 Studierende einen Brief an den Präsidenten unterschrieben, in dem sie einen Abbruch des Krieges in der Ukraine fordern.
Zum Schluss meines Statements zum Krieg in der Ukraine, die ein „Aufschlag“ zu einer in den nächsten Tagen und Wochen bei #Aufstehen um einen gemeinsamen Standpunkt zu führende Debatte anregen will, möchte ich auf eine Petition aufmerksam machen und zur Unterschrift anregen, die schon 1.141.811 Menschen unterschrieben haben:
Bitte für unsere Diskussion die Kommentarfunktion unter diesem Artikel, als auch das Forum https://aufstehen-basis.de/community/krieg_in_der_ukraine/ nutzen.