von Paula Hensel
Corona hat uns in gesellschaftspolitische Abgründe blicken lassen. Das Gesundheitssystem ist nicht unschuldig daran. Höchste Zeit, das zu ändern!
Mit viel Einsicht und großer Skepsis habe ich die Pandemie und ihre Auswirkungen, sowie die Maßnahmen zur Eindämmung wahrgenommen. Zunächst erfreut über die hohe Bereitschaft in der Bevölkerung auf gegenseitige Rücksichtnahme, sowie in der Politik, beeinträchtigte Bevölkerungsgruppen zu entschädigen, mussten wir alle realisieren, dass die Einhaltung von Grundrechten für uns von unterschiedlich hoher Bedeutung ist. Einige wollten sie unter gar keinen Umständen einschränken, die meisten nach Abwägung der gesundheitlichen Risiken schon eher und vorübergehend. Auch bemerkten wir bald, von beschwichtigenden Worten und vollmundigen Versprechen können keine Existenzen am Leben erhalten werden.
Wie üblich wurden die sozial Benachteiligten vergessen, denen die günstige oder sogar kostenlose Versorgung für ihren täglichen Bedarf in Form von „Tafeln“ und karitativen Einrichtungen wegbrachen. Auch Obdachlose hatten das Nachsehen, die im Lockdown ihre notdürftigen Unterkünfte und Einkehrmöglichkeiten nicht mehr zur Verfügung hatten. Wie allen bekannt ist, wurden Arbeitnehmer nur von ihren tarifgebundenen Unternehmen in der Kurzarbeit besser entlohnt, Niedriglöhner meist gar nicht und schauten so in die Röhre. Für die Selbstständigen und meist inhabergeführten kleinen Unternehmen eröffneten sich nach einer ersten hoffnungsvollen Unterstützungsrunde keine oder sehr späte und nicht ausreichende Hilfen. Manchen von ihnen wurden zwar Darlehen gewährt, die aber hohe Rückzahlungsbeträge zur Folge hatten und oft nicht leistbar waren. Dieses ganze Desaster spielte sich bereits kurz nach Beginn der Pandemie ab, so dass man sich heute zu Recht fragt, wer diese Katastrophe nach einem Jahr Schließung, „ein-bisschen- oder-gar-nicht-Öffnen“, überhaupt überstehen könnte.
Die Petition
Eine Gruppe von Berliner Aufständischen hat daher eine Petition mit Forderungen nach Unterstützung und dauerhafter Verbesserung dieser Zielgruppen erstellt, die jede und jeder sehr gerne noch unterschreiben darf, ja sogar unterschreiben SOLLTE:
https://www.openpetition.de/petition/online/gutenlohnfuergutearbeit
Gesellschaft spaltet sich
Soweit zu den finanziellen Löchern, die die Pandemie gerissen hat. Der anfängliche Überschwang der gegenseitigen Rücksichtnahme flaute leider bald ab. Fast von Beginn an gab es eine immer tiefer werdende Kluft zwischen Kritikern der staatlichen Maßnahmen aus unterschiedlichen Gründen und harten Pandemie-Leugnern. Hierbei blieb bedauerlicherweise die Fähigkeit zur Differenzierung sehr bald auf der Strecke. Es gab nur noch Menschen, die dafür oder dagegen waren. Schublade auf! Schublade zu!
Kluge Stimmen werden nicht gehört
Dabei gab es auch schon zu Beginn viele kreative Stimmen aus der Wissenschaft. Leider wurden von der Politik und somit auch von den Medien nur die akzeptierten und ihnen genehmen Stimmen erhört. Die interdisziplinär aus verschiedenen Bereichen des Gesundheitswesens besetzte Gruppe um Prof. Dr. Matthias Schrappe beispielsweise, ein erfahrener Infektologe, Versorgungsforscher und früherer stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrats im Bundesgesundheitsministerium, äußerte in vielen Thesenpapieren ihre Einschätzung zur Pandemie und zu den politischen Maßnahmen und machte Ergänzungen und Verbesserungsvorschläge. Besonders einleuchtend fand ich die Forderung nach Kohorten-Studien, um nicht nur die weiteren Vorgehensweisen überprüfen zu können, sondern auch besser für spätere Pandemien, die hoffentlich nicht folgen, gerüstet zu sein. Auch in der 2. Ad-hoc-Stellungnahme zum Thesenpapier 7 beklagte er u.a. das Fehlen dieser Kohorten-Studien. /1/
Die fehlenden Daten
Heute nach über einem Jahr Erfahrung mit der Pandemie, stehen wir auch nach Auffassung von Prof. Dr. Gerd Antes, Medizinstatistiker aus Freiburg und Mitbegründer des „Deutschen Netzwerks für Evidenzbasierte Medizin“, ohne ausreichende Daten da, um eine umfassende Beurteilung des gesamten Pandemiegeschehens abgeben zu können, geschweige denn ein tragfähiges Konzept für die Zukunft zu haben. Zu Beginn der Pandemie hätte festgelegt werden müssen, welche Daten zu erheben sind, und so wissen wir immer noch nicht, wo und wann etwas passiert./2/
Auch im Wochenblatt “Der Freitag” beklagt Jan-Martin Wiarda unter anderem, dass die Bundesrepublik nicht wie Großbritannien ein Corona-Panel hingekriegt hat, in dem regelmäßig wiederholte Tests bei derselben repräsentativ ausgewählten Bevölkerungsstichprobe vorgenommen werden. /3/
Die tragende Rolle der Intensivbetten
Eine wichtige Rolle im Pandemiegeschehen spielten und spielen auch die Intensivbetten. Manch einer mag sich gewundert haben, dass trotz geringerer Infektionszahlen und bereits geimpfter älterer Mitbürger*innen die Zahl der verfügbaren Intensivbetten so schnell an die Grenzen kamen. Die Meldungen von zusammenbrechenden Intensivstationen wurden immer häufiger und drängender. Nicht nur ich habe mich wohl gefragt, wie das bei einem Viertel der Auslastung mit Covid-Patienten überhaupt passieren kann. /4/
Auch Sahra Wagenknecht wunderte sich über den Schwund von 6000 Intensivbetten aus der Statistik von 2020. Auch sollen sich laut Wagenknecht 9000 Pflegekräfte in dem Jahr von ihrem Beruf verabschiedet haben /5/. Es mag sicher viele Erklärungen für das „Verschwinden“ von Intensivbetten geben. Klar ist, dass für Intensivbetten auch intensive Betreuung erforderlich ist. Doch dieser hohe Bettenschwund kann auch für Wagenknecht nicht nur daher rühren. Eine andere Erklärung liefert Ralf Wurzbacher in seinem Beitrag in den „Nachdenkseiten“ /6/ Es war zu beobachten, so Wurzbacher, „dass Krankenhäuser für Ausfälle, die ihnen wegen der Pandemie entstanden sind, Zuwendungen erhalten, allerdings bloß für diejenigen, deren Intensivstationen zu mindestens 75 % ausgelastet sind“. Also standen die Krankenhäuser besser da, die wenig und voll ausgelastete Intensivbetten hatten. So verkleinerten viele Kliniken ihre Intensivstationen, was eine höhere Auslastung zur Folge hatte.
Die Suche nach der Wahrheit
Eine umfassende Information über die Pandemie und ihre Maßnahmen bietet die Dokumentation von Servus TV „Corona – Auf der Suche nach der Wahrheit“. Der Linzer Virologe Professor Haditsch machte sich rund um den Globus auf den Weg, um namhafte Wissenschaftler nach den Ursachen und ihren Erfahrungen mit der Pandemie zu befragen. Das Ergebnis sind interessante Interviews, unbequeme Fragen und überraschende Antworten sowie neue Perspektiven auf das Virus und seine Maßnahmen zur Bekämpfung /7/.
Die Schutzbedürftigen
Als eine weitere Fehlentwicklung neben des leider viel zu späten Schutzes der älteren Bevölkerung erweist sich die Erkenntnis, dass die sozial Benachteiligten in unserer Gesellschaft ein vielfach erhöhtes Erkrankungsrisiko hatten und haben. Erstmals im Juni 2020 ergab die Auswertung der Versichertendaten, dass sozial Benachteiligte und Langzeitarbeitslose ein deutlich erhöhtes Risiko haben, mit einer Covid-Erkrankung ins Krankenhaus zu kommen. Ähnliches wurde im Nationalen Gesundheitsbericht im September 2020 veröffentlicht, wurde aber leider von Politik und Medien nicht entsprechend berücksichtigt. /8/
Erst im April 2021 gelangten diese wegweisenden Erkenntnisse in die öffentliche Diskussion. Zum Teil reagieren Städte und Kommunen darauf und beschleunigen die Impfung dieser Gruppen. Studien in England und den USA ergaben sogar ein erhöhtes Risiko bei Menschen mit geringer Bildung, an Covid19 zu sterben.
#allesdichtmachen
Vor dieser kritischen Betrachtung der Pandemie kann auch die Aktion der 52 Schauspieler #allesdichtmachen verstanden werden /9/. Mit kurzen Videos machten sie auf die Begleiterscheinungen der Pandemie und ihrer Maßnahmen aufmerksam. Natürlich ist die Bewertung der einzelnen Aussagen Geschmacksache, doch ergeben die zum Teil getragen-traurigen, heiter-satirischen und manchmal sarkastischen Sequenzen insgesamt ein Bild von den einschneidenden Erfahrungen, denen wir Bürger – und nicht nur Künstler – im Laufe der Zeit ausgesetzt wurden. Da die pandemiebedingten Erkrankungen und Todesfälle sowie deren unermüdliche Behandlung und Pflege in keinem Fall Gegenstand der Aktion waren, halte ich die Vorwürfe, die in diese Richtung zielen, für unzutreffend und völlig ungerechtfertigt.
Das Gesundheitssystem: Gewinner und Verlierer
Wie eingangs erwähnt, ist neben der zu langsamen Reaktion der Politik, den Fehlentwicklungen und -entscheidungen bei den Maßnahmen, den finanziellen Härten und den viel zu ausufernden Einschränkungen für Kinder und Jugendliche sowie für die Älteren, der Zustand unseres Gesundheitssystems an der chaotischen Lage nicht unschuldig. Die Abkehr vom vorsorgenden, nicht gewinnorientierten Gesundheitswesen hat zu einer immer höher werdenden Konzentration von privaten Trägern in der stationären Versorgung von kranken und alten Menschen geführt. Während öffentliche und freie, gemeinnützige Träger von Kliniken mit Auftrag zur kostenintensiven Allgemeinversorgung wegen Finanzierungsproblemen ihre Häuser zunehmend verkaufen (müssen) oder insolvent werden, trifft es die privaten Konzerne mit ihren meist hochspezialisierten Kliniken weniger hart. Insgesamt erhöhten sich 2020 die Gewinne (+14 %), obwohl weniger Patienten die Kliniken durchlaufen haben (-13 %), 10 Mrd.€ kamen davon vom Staat. Beispielsweise profitierten die Helios-Kliniken 2020 immens von der Freihaltepauschale; ihr Gewinn bleibt trotz geringerem Patientenaufkommens mit 670 Mio.€ vor Steuern gegenüber dem Vorjahr mit 660 Mio.€ stabil. /10/
Um ihre Gewinne weiter zu steigern, wollen die Helios-Kliniken nun Ärzte-Kapazitäten abbauen. Aus der Begründung macht die Führung keinen Hehl; Stephan Sturm, der Chef des Mutterkonzerns Fresenius, gibt zu, dass es um mehrere hundert Stellen gehe. Eine gezielte Verringerung von Arzt-Kapazitäten sei notwendig, „um unsere Profitabilität zu sichern.“ Gegenüber Bankanalysten sagte er, es können sogar zum „Verkauf von Kliniken“ kommen, um die Kosten zu drücken. Da die bisherigen Einsparmöglichkeiten im Bereich der Pflege durch gesetzliche Regelungen verbaut würden, müssten sie jetzt die Ärzte-Kapazitäten „feintunen“ /11/.
Gesundheit im Griff der Großkonzerne
Die Großkonzerne wissen, wie sie durch effizientere Beschaffung in ihren zahlreichen Häusern und lukrative Spezialisierungen für ihre Aktionäre die Dividende erhöhen können und die teure Allgemeinversorgung eher den öffentlichen Kliniken überlassen. Der renommierte Gesundheitsökonom der TU-Berlin, Reinhard Busse, berät das Bundesgesundheitsministerium. Er vertritt sehr überzeugt die Ergebnisse der Bertelsmann Studie, die besagen, dass es zu viele kleine Krankenhäuser in der Bundesrepublik gibt und es nur noch ca. 600 große Kliniken mit bester Ausstattung bräuchte.
Die geschlossenen Standorte werden gegebenenfalls durch Medizinische Versorgungszentren (MVZ) ersetzt. Damit wird der wohnortnahen Versorgung der Garaus gemacht, denn diese MVZ sind nur zusammengeschlossene ambulante Arztpraxen verschiedener Fachrichtungen und keine stationären Notfall-Einrichtungen. Und wen wundert es, dass diese Versorgungszentren von privaten Großkonzernen, Private-Equity-Gesellschaften und Hedgefonds finanziert und betrieben werden? /12/ Angefangen mit der Übernahme von lukrativen Zahnarztpraxen, werden inzwischen auch andere spezialisierte Fachpraxen aufgekauft und in MVZ überführt.
Nur die Politik könnte hier einen Riegel vorschieben und die Entkoppelung von Leistungserbringung und Trägerschaft in den Versorgungszentren zurücknehmen. Aber will sie das überhaupt? Zurzeit sieht es so aus, dass sie eher die Marktkräfte ungezügelt gewähren lässt und weit davon entfernt ist, Gesundheit als ein öffentliches gemeinwohlorientiertes Gut zu betrachten. Denn dem Abbau von Krankenhäusern fallen nicht die konzerngeführten Kliniken, sondern eher die kommunalen und andere öffentliche sowie freie, gemeinnützige Häuser zum Opfer. Man braucht wenig Fantasie um sich vorzustellen, wer die Gewinner dieses Schrumpfungsprozesses sein werden – die namhaften Großkonzerne, wie Helios, Asklepios, Sana, Rhön, Paracelsus und wie sie sonst noch alle heißen.
Politik: Ändere das!
Die Qualität und Leistungsfähigkeit der medizinischen und pflegerischen Versorgung von kranken und alten Menschen wird immer mehr von der Gunst der profitgeleiteten Konzerne abhängen, denen sich auch das medizinische Personal unterwerfen muss. Die kranken und alten Menschen sind die wirklich Leidtragenden.