März 19, 2024

Der Kapitalismus ist an allem schuld

von Andreas Butt-Weise

Wenn wir über Kapitalismus reden, worüber reden wir da eigentlich? Sind wir uns immer sicher, ob wir das gleiche meinen? In der Tat ist der Kapitalismus nach 1989 das Wirtschaftssystem, das weltumspannend die Gesellschaften bestimmt. Wir können tatsächlich von einem „Weltsystem“ sprechen. Aber bedeutet das, dass wir die mehrere Bände umfassende Analyse des Kapitalismus durch Karl Marx lediglich auf nur das eine Motiv / Moment der Kapitalakkumulation, die Absicherung und Vermehrung des Kapitals für die „Kapitalisten“ / die „Reichen“, reduzieren können: auf „die private Aneignung gesellschaftlicher Arbeit, die Produktionsweise mit dem Ziel, aus Geld mehr Geld zu erwirtschaften“?

Es ist nicht zu bezweifeln, dass der Kapitalismus Krisen, Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten produziert, doch rechtfertigen diese Feststellungen undifferenzierte Pauschalurteile, die unterschiedliche Formen kapitalistischer Ausprägungen im 20. Jahrhundert in Wirtschaft und Gesellschaft verneinen? Selbstverständlich gibt es verschiedene Formen des  kapitalistischen Systems! Wer sie nicht wahrnimmt, verneint Unterschiede von nationalsozialistischer und bundesrepublikanischer Ausprägung von Wirtschaft und Gesellschaft. Ein „Antikapitalist“ verneint die Unterschiede zwischen dem „angelsächsischen“, dem „skandinavischem Modell“ und dem „deutschen Modell“ (dem „rheinischen Kapitalismus“), die Unterschiede zwischen den westlichen und den asiatischen Formen (China, Korea, Singapur), die Unterschiede der Wirtschaft zwischen den 50iger und 60iger Jahre und heute.

Wer diese Unterschiede, sowohl historischer und gegenwärtiger Ausprägung, nicht wahrnimmt,  bewusst oder unbewusst, unterschätzt –  und das ist natürlich nicht unproblematisch – den Einfluss des jeweiligen Staates und seiner Möglichkeit der Wirtschaftsteuerung. Der „Antikapitalist“ unterschätzt den staatlichen Einfluss durch Steuer- und Finanzwesen, Lohn- und Gehaltsvereinbarungen, die gesellschaftliche Position von Unternehmen, etc. Damit sind Vergleiche der politischen Verfasstheit der Staaten und deren Einfluss durch seine Planungsinstrumente nicht möglich. Wenn man dann auch noch von einem „staatskapitalistischen Regime des ehem. Ostblocks“ spricht, ist man vernebelt oder will ganz bewusst vernebeln! Denn wie es verschiedene Ausprägungen des Kapitalismus gab und gibt, so auch verschiedene des Sozialismus. Es gab keine gemeinsame Identität des Wirtschaftens in der DDR, der Sowjetunion, China, Nordkorea oder Polen und Ungarn. Die Ablehnung sowohl des „gescheiterten staatskapitalistischen Regime(s) … als auch (des) westlichen Kapitalismus“, die eine Verleugnung ist, dass es je einen Sozialismus gegeben habe, dient lediglich dazu, sich in dem Wissen um einen wahren Sozialismus als alleiniger „Wahrheitswissender“ darstellen zu können.

Diese vereinfachende, reduzierende und kategorische Sichtweise hat nur einen „ideologischen“ Zweck: die Relativierung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Ausprägungen kapitalistischer Staaten, seien es Diktaturen und/oder Demokratien, soll die Notwendigkeit der Abschaffung der als „kapitalistisch“ gebrandmarkten repräsentativen Demokratie  deutlich werden lassen. Die Behauptung, dass es einen „Atomausstieg“ „ohne die anhaltenden und massenhaften Anti-AKW-Proteste“ nie gegeben hätte, evoziert und flankiert die gleiche Vorstellung, dass es nicht die Repräsentanten eines „verantwortungsvollen“ Staates waren, sondern der Druck von der Straße. Diese Behauptung ist auf der einen Seite richtig, nämlich dass gesellschaftlicher Fortschritt in der Tat nur durch das Engagement von uns Bürgern in die Parlamente getragen werden muss, aber auf der anderen Seite falsch bzw. „naiv“, wenn man glaubt, dass nur allein der Druck der Straße politische Veränderungen herbeiführen kann. Denn wer glaubt wirklich, dass die Montagsdemonstrationen / eine „friedliche Revolution“ das Ende der DDR herbeigeführt hat?

Mit der Verneinung der wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Unterschiede zwischen der kapitalistischen und sozialistischen Hemisphäre bzw. Relativierung der demokratischen und autoritären / diktatorischen Verfasstheit von Staaten generieren sich diese „Antikapitalisten“ ein Alleinstellungsmerkmal: nur sie sind wirklich antikapitalistisch!  Somit sind alle anderen linken Kräfte – sozialdemokratische sowie „grüne“ – nichts weiter als „kleinbürgerliche“, sich ihrer Manipuliertheit nicht bewusste, „Büttel“ / Erfüllungsgehilfen des Kapitals. Denn der Kapitalismus hat die Manipulation des Bewusstseins perfektioniert, „das herrschende Bewusstsein ist das Bewusstsein der Herrschenden“. (Marx, Die deutsche Ideologie)“ An dieser Feststellung ist nichts falsch! ABER: es dient hier leider der Abqualifizierung anderer sich als „links“ verstehender Kräfte, die somit unterschiedslos  zu politischen Gegnern gemacht werden. Diese Entwicklung eines „Feindbildes“,  diese vereinfachte Einteilung der Welt in „Gut“ und „Böse“ ist eine quasi religiöse, ist eine Strategie, ob bewusst oder unbewusst,  die harthörig gegenüber anderen Argumenten macht.

Unabhängig davon, dass das vermeintliche Hauptwerk „Die deutsche Ideologie“ von Marx, aus dem dieses Zitat stammt, nur ein Konstrukt / eine Ansammlung von unterschiedlichsten / disparaten Fragmenten ist, ist es doch im Wesentlichen eine Ansammlung von Texten, in denen Bottiche von Spott und Häme  über Marxens intellektuellen „Feindbildern“ (Max Stirner, Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer) ausgeschüttet wird. Wenn wir das Zitat: „das herrschende Bewusstsein ist das Bewusstsein der Herrschenden“ trotz alledem ernst nehmen, sollte uns auffallen, dass Sein und Bewusstsein ein dialektisches Begriffspaar sind, dass ein Begriff ohne den anderen nicht auskommt. So ist nicht verneint, dass auch das Bewusstsein das Sein hervorbringt, als ein Zusammenspiel von gesellschaftlicher Realität und die sie gestaltenden Subjekte. Subjekte,  also jeder von uns, gestaltet seine Umwelt, und diese Gestaltung wirkt wieder auf die Gedanken anderer Subjekte. Mit anderen Worten: wir sind nicht nur Produkte, sondern auch Produzenten unserer Wirklichkeit! Und zwar wir Alle!

Es geht darum, alle gesellschaftlichen Kräfte, ob grün, sozialdemokratisch oder links orientiert,  ernst- und mitzunehmen auf die Suche nach Antworten auf die wachsende Ungleichheit, den Zerfall von Gesellschaft und die Zerstörung der Natur, etc. Wir brauchen Strategien, die heute Lösungen auf die drängenden Fragen entwickeln und nicht einer negierenden, wirklichkeitsenthobenen Fantasterei folgen. Es geht nicht um eine „Ideologie“, die unsere nicht gerechten Zustände nicht nur aufdecken, sondern durch „revolutionäre Praxis“ beseitigen will. Es geht um die Veränderungen im Hier und Heute um eine evolutionäre Entwicklung, die die Mehrheit unserer Gesellschaft – 70% unter 2000€ netto Verdiener – mitnimmt und nicht die Verbesserung ihrer Lebensumstände in eine postkapitalistische Welt verschiebt!

Auch wenn wir uns beispielsweise auf eine „Commons-Ökonomie“ / eine „Gemeinwohlorientierte Wirtschaftsform“ verständigen sollten, für die die Ermächtigung der Gesellschaft gegenüber dem Kapital und dem Staat eine wichtige Rolle spielt, sollte uns doch klar sein, dass der demokratische Staat weiterhin eine wichtige Rolle spielen muss,  der allein nur als zentrale Instanz diesen „transformatorischen“ Prozess garantieren kann. Getragen werden sollte diese (unsere) Forderung durch eine „Care-Ethik“, die die „Transformation“ der Ökonomie danach beurteilt, ob sie die Sorge um die Schwächsten in unserer Gesellschaft sicherstellt und mit einer nachhaltigen Produktion naturverträglich ist. Auch hier  sollten pauschale Lösungen in allen Bereichen vermieden werden; z.B. Wenn Minuswachstum (Degrowth) als Vision entwickelt würde, dürfte es wenig Sinn machen, diese Forderung auf alle Wirtschaftsbereiche anwenden zu wollen. Es gibt Bereiche der Wirtschaft, für die sollten Strategien für ein Minuswachstum entwickelt werden, für andere, wie z.B. den ÖPNV, die regenerativen Energieerzeugungsmöglichkeiten, etc. sollte mehr Wachstum eingefordert werden.

Wir sollten uns nicht mit der pauschalen „Verteufelung“ des Kapitalismus die Überwindung der aktuellen Form der Marktwirtschaft durch sozialere und ökologisch verträgliche  Ausgestaltung verbauen. Es braucht nicht nur in die Zukunft vertagte, sondern weisende Konzepte, die heute schon Verbesserung in allen Lebensbereichen herbeiführen könnten. Wir brauchen alle Ideen und Konzepte, die die öffentliche Grundversorgung / das demokratische Gemeineigentum und die Demokratisierung aller unserer Lebensbereiche,  auch die der Arbeitswelt,  stärken und vertiefen.

Wir wissen alle, wohin die Reise gehen soll!

Wir wissen alle, wie emanzipatorischer Fortschritt aussehen könnte.

Verknüpfen wir das Nachdenken über postkapitalistische Alternativen mit konkreten Schritten und nicht mit antikapitalistischen Fantastereien!

Ein Gedanke zu “Der Kapitalismus ist an allem schuld

  1. Antwort auf den Artikel: Der Kapitalismus ist an allem schuld

    Besser zusammenarbeiten als polemisieren!
    Wache Geister, Interessierte Durchschnittsbürger, Linke Grüne, Fridays for Future Aktivisten, traditionelle Sozialisten, Reformsozialisten, Keynesanhänger, … und antikapitalistische Linke gehören in eine linke Sammlungsbewegung.
    Keine der politischen Differenzen untereinander steht dem Ziel im Weg gesellschaftlichen Druck für die Durchsetzung sozialer, demokratischer und ökologischer Forderungen zu entfalten.
    Aktuelles Beispiel in Berlin ist die Unterstützung der Kampagne Deutsche Wohnen & Co enteignen.
    Wir sind anerkannter Teil der Bewegung.
    Wozu also ist es gut, eine der Gruppen, die sich in Aufstehen zusammengeschlossen haben, an den Pranger zu stellen?
    Wohlgemerkt völlig unabhängig von deren täglichen Einsatz im Kiez für die Durchsetzung unserer Forderungen.
    Wozu ist es gut, hier einen Pappkameraden aufzubauen, damit man ihn leicht demontieren kann?
    – Wir antikapitalistischen Linken „reduzieren“ den Kapitalismus keineswegs auf die private Aneignung gesellschaftlicher Arbeit, die Produktionsweise mit dem Ziel, aus Geld mehr Geld zu erwirtschaften.
    Nur im Unterschied zum Verfasser der Streitschrift halten wir, im Gegensatz zum Mainstream, diesen Zusammenhang für grundlegend.
    Dies gilt z.B. für die Veränderung am Wohnungsmarkt durch börsennotierte Wohnungs(bau)konzerne, oder die Frage, warum denn Politik nicht im Interesse der Mehrheit gemacht wird (es sei denn gesellschaftlicher Druck kann entfaltet werden).

    – Ein „Antikapitalist“ verneint keineswegs die Unterschiede zwischen verschiedenen Formen des Kapitalismus.
    Er glaubt nur nicht, dass ein Zurück zu den 50er oder 60er Jahren „sozialer Marktwirtschaft“ unsere Perspektive sein sollte (vgl. Ulrike Herrmann; Deutschland ein Wirtschaftsmärchen).
    Er glaubt nicht, dass „gute Politiker“ unter kapitalistischen Verhältnissen unabhängig vom Druck von Unten alles zum Besten richten könnten.

    – Dass es in der DDR nicht das gegeben hat was wir uns unter Sozialismus vorstellen, wird wohl nicht nur von Antikapitalisten in Aufstehen geteilt.
    Eine sozialistische Gesellschaft kann m.E. nur demokratisch; Produktion und Wirtschaft nur vergesellschaftet (nicht gleich=verstaatlicht) organisiert sein.
    Darüber, ob die DDR von daher staatskapitalistisch war, wie ich China einschätzen würde, kann man gerne streiten.
    Absurd ist der Vorwurf, wir wollten uns als „Wahrheitswissende“ über den Sozialismus gerieren.
    Im Gegenteil: der Begriff „antikapitalistisch“ verweist ja gerade auf die Offenheit gegenüber neuen Modellen und die Gemeinsamkeit unserer Haltung innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft.
    Am erfolgversprechendsten scheint mir die Perspektive, dass soziale und demokratische Bewegungen dem Kapitalismus, dort wo seine Auswirkungen Empörung hervorrufen, Stück für Stück Boden abtrotzen (Mietendeckel; Deutsche Wohnen & Co enteignen; Gesundheitswesen; …).
    Wohin das letztlich führt wird man sehen.

    – Ebenso aus der Luft gegriffen ist die Behauptung, wir wollten die repräsentative Demokratie abschaffen. Besonders peinlich, da sie Linken gegenüber bisher 1:1 von Rechten „entgegengeschmettert“ wurde.

    Im Text geht es nun mit Unterstellungen nach gleichem Muster fort:
    • Antikapitalisten würden andere Linke als „kleinbürgerliche“ „Büttel“ betrachten und sie „unterschiedslos zu politischen Gegnern machen“
    und geht über zum Bekenntnis
    • „keine pauschale Verteufelung des Kapitalismus“
    • „sozialere und ökologische Ausgestaltung der Marktwirtschaft“
    Auch diese Meinung kann man vertreten, aber Bitte in fairer Debatte, wenn ihr widersprochen wird.
    – Diskussionswürdig ist die Meinung „Repräsentanten eines verantwortungsvollen Staates und nicht (in erster Linie; d. Verf.) der Druck der Straße (Anti AKW-Proteste, Deutsche Wohnen Volksentscheid-Bewegung; d. Verf.)“ hätten z.B. zum Atomausstieg, (Mietendeckel in Berlin; d. Verf.), u. ä. geführt.
    Diese und die Gegenposition gehören in eine Sammlungsbewegung.
    Die Kunst besteht nun darin, Unterschiede nicht destruktiv werden zu lassen, sondern produktiv zu machen.

    Ein gutes Beispiel lieferte die Diskussionsveranstaltung von Aufstehen Berlin zu den Corona-Maßnahmen:
    Hier waren die Corona-Maßnahmen-kritische Haltung und die Corona-Leugner-kritische Haltung vertreten.
    Statt mit „Aufstehen gegen Nazis“ werden wir künftig Querdenken-Demos eher mit „Keine Freiheit ohne Solidarität“ begleiten.

    In diesem Sinne

    Peter Hoffmann
    (Aufstehen Spandau)

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