März 19, 2024

Zu sagen, was ist

bleibt die revolutionärste Tat

(Rosa Luxemburg)

von Dieter Küchler

Wir alle leben seit fast 40 Jahren in einer Gesellschaft mit neoliberaler bzw. marktradikaler Wirtschaftsordnung, die uns als alternativlos verkauft wird.

Die DDR-Bürger sind 1990 ohne weitere Alternative ebenfalls in dieser marktradikalen Wirtschaftsordnung gelandet und waren schnell mehrheitlich die Verlierer. Mit einer bisher in Europa einzigartigen wirtschaftlichen Zerstörung, die in Ostdeutschland passierte, wurde das erste große Projekt der neoliberalen bzw. marktradikalen Umgestaltung der Wirtschaft in Deutschland durchgeführt. Die kulturell und politisch so begrüßenswerte Wiedervereinigung wurde wirtschaftspolitisch, und damit dann auch sozial, ein beispielloses Desaster, dessen Folgen und Verwerfungen bis heute und sicher auch noch lange nachhallen werden und dessen Ursachen und Wirkungen bis heute nur bruchstückhaft aufgearbeitet sind.

Diese herrschende marktradikale Wirtschaftsordnung hat mittlerweile überall in der Bundesrepublik eine schleichende Stagnation der gesellschaftlichen Entwicklung mit starken sozialen Einschnitten herbeigeführt. In diesem Zusammenhang muss an die Einführung von ALG II (Hartz IV) und damit an die Einführung des gesamten Niedriglohnsektors erinnert werden.

Dabei sind die Prinzipien der marktradikalen Wirtschaftsordnung mittlerweile so in den Mainstream der Gesellschaft und bedauerlicherweise auch in die Argumentation der linken gesellschaftlichen Kräfte eingesickert, als ob es tatsächlich keine Alternativen dazu gäbe. Dazu zwei Beispiele:

  • Alle linken Kräfte berücksichtigen in vorausschauendem Gehorsam die Vermeidung von neuen „Schulden“, wenn sie viel zu vorsichtig soziale Forderungen stellen, indem sie diese sogleich mit der Forderung nach höheren Steuern verbinden. Damit bedienen sie das monetaristische Modell von Geld, welches der Neoliberalismus zu seinen Gunsten seit 40 Jahren wieder eingeführt hat;
  • Die viel zu vorsichtigen Lohnforderungen der Gewerkschaften gehen ebenfalls vom neoliberalen Modell aus, dass billige Arbeitskraft mehr Beschäftigung sichert. Die banale Wahrheit ist genau andersherum. Ganz im Gegenteil vernichten in unserer hoch entwickelten Wirtschaft permanente Lohnsenkungen den Großteil der Arbeitsplätze /1/.

Linke soziale Forderungen im Rahmen der bestehenden neoliberalen, marktradikalen Wirtschaftsordnung durchzusetzen, wird so zunehmend schwieriger, weswegen tatsächlich die Frage steht, welche wirtschaftspolitische Alternativen es gibt und wie groß die Chancen sind, dass zu ihrer Einführung gesellschaftliche Mehrheiten organisierbar sind.

Worin besteht ganz praktisch eine umsetzbare Alternative zur bestehenden neoliberalen, marktradikalen Wirtschaftsordnung?

Zugegeben, soziale Forderungen sind für uns Linke im Rahmen der bestehenden neoliberalen bzw. marktradikalen Wirtschaftsverfassung zunehmend schwieriger durchzusetzen. Deswegen besteht die Frage zu Recht, welche wirtschaftspolitische Alternativen gibt es und wie groß sind die Chancen für ihre Umsetzung gesellschaftliche Mehrheiten zu gewinnen. Worin besteht also ganz praktisch gesehen eine umsetzbare Alternative zur bestehenden neoliberalen bzw. marktradikalen Wirtschaftsordnung?

Es ist verwunderlich, dass die linken politischen Kräfte in Deutschland keine klare, eindeutige und verständliche Antwort formulieren können. Das ist augenscheinlich ihre gegenwärtige absolute Schwäche!

Ist die erforderliche wirtschaftspolitische Alternative die Abschaffung der Marktwirtschaft als das wirtschafts-politische System, welches die sozialen Ungleichgewichte in unserer Gesellschaft verursacht? So wie es die unterschiedlichen Kräfte der antikapitalistischen Linken postulieren /2/? Sollen wir mit einer Revolution für eine andere gesellschaftliche Lösung kämpfen? Und wie viele Menschen in der Bundesrepublik würden uns folgen? Die Gefolgschaft der antikapitalistischen Linken ist seit vielen Jahren marginal. Es ist klar, eine solche Revolution würde keine Mehrheiten gewinnen und die Aufstehen-Bewegung sollte sich hier klar distanzieren.

Soll die wirtschaftspolitische Alternative infolge des Zusammenbruchs der gegenwärtigen Marktwirtschaft wegen ihrer überdehnten ständig wachsenden Schulden und ihrer immer kleiner werdenden Anzahl verfügbarer Arbeitsplätze entstehen, wie viele linke Intellektuelle denken /3/? Nein, denn ein Zusammenbruch wegen überdehnter Schulden wird nicht stattfinden. So kann nur jemand denken, der das seit 150 Jahren existierende „moderne“ Geld nicht verstanden hat und der den monetaristischen Märchen des neoliberalen Mainstreams vom Geld aufgesessen ist. Genauso gehen viele linke Intellektuelle davon aus, dass menschliche Arbeit immer weniger und damit die Anzahl verfügbarer Arbeitsplätze immer knapper wird. Auch diese Sichtweise beruht auf der marktradikalen Wirtschaftsideologie, dass menschliche Arbeit sich sofort umschlagen lassen muss in die Generierung von Profit.

Historisch betrachtet ist sinnvolle Arbeit für die Gesellschaft nie zu wenig da gewesen. Auch heute sowie in einer gemeinwohlorientierten zukunftsweisenden Wirtschaft kann und wird die vorhandene Arbeit auf alle vorhandenen Arbeitskräfte verteilt werden /4/.

Die wirtschaftspolitische Alternative, nach der alle linken Kräfte gemeinsam streben sollten, ist logischerweise genau das Gegenteil der gegenwärtigen neoliberalen  bzw. marktradikalen Wirtschaftsordnung. Es ist die Lehre vom modernen Geld /5/ und dem Staat als einzig möglichen Gemeinwohlinvestor. Der erste Vertreter, der auf der Basis des modernen Geldes und dieser Ziele eine neue und passende Wirtschaftstheorie entwickelte, war John Maynard Keynes. Sein Hauptwerk erschien im Februar 1936 unter dem Titel: „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ /6/.

Grundzüge des nach Keynes genannten Keynesianischen Wirtschaftsmodells sind

  • Produktion und Beschäftigung werden über den Gütermarkt, nicht über den Beschäftigungsmarkt gesteuert;
  • unfreiwillige Arbeitslosigkeit wird minimiert, ist aber möglich;
  • die moderne Geldwirtschaft unterscheidet sich von einer Tauschwirtschaft;
  • Investitionen sind nicht davon abhängig, dass vorher gespart wird. Die Banken vergeben Kredite durch Kredit- und Geldschöpfung;
  • Der Staat tritt mit eigenen Investitionen auf und kann, wenn er will, Gemeinwohlinvestor sein.

In der Bundesrepublik Deutschland war Prof. Karl Schiller, von 1966 bis 1972 der erste sozialdemokratische Wirtschaftsminister, ein Anhänger der Ideen von Keynes. Mit dem von ihm initiierten Stabilitäts- und Wachstumsgesetz führte er keynesianische Prinzipien in die deutsche Wirtschaftspolitik ein /7/. Diese keynesianischen Prinzipien sicherten in der Folge die geringe Arbeitslosigkeit und führten zu kräftigen Lohnsteigerungen, besonders der unteren Lohn- und Gehaltsgruppen. Obwohl in den späten 1970er Jahren beginnend, diese keynesianischen Prinzipien schrittweise den marktradikalen Ideen weichen mussten, sicherten sie bis in die 1980er Jahre eine stabile und positive Lohn- und Gehaltsentwicklung der Beschäftigten in der Bundesrepublik.

Gerade heute, in der Zeit härtester marktradikaler Ausrichtung mit verheerenden sozialen Folgen und dem größten Niedriglohnsektor in Westeuropa und in Deutschland seit dem 2. Weltkrieg sollten alle linken Kräfte ihre sozialpolitischen Programme auf den Prinzipien dieser bewährten keynesianischen Modelle bzw. ihrer Weiterentwicklung, der Modern Monetary Theory (MMT) /8/, aufbauen.

Deshalb sollten wir Linken erkennen, dass die Theorie vom modernen Geld und die darauf aufbauenden keynesianischen Prinzipien zunächst ideologiefrei sind. Die historischen Beispiele der Anwendung dieser Prinzipien in den USA zur Überwindung der großen Depression in den 1930er und 1940er Jahren einerseits und die Anwendung dieser Prinzipien in Hitlerdeutschland zur Finanzierung von Aufrüstung und Krieg zeigen dies anschaulich.

Genauso erfolgt heute in Westeuropa, für alle sichtbar, die erfolgreiche Finanzierung der Überwindung der durch Corona entstandenen Wirtschaftskrise in Anwendung der modernen Geldtheorie, allerdings aber in ihrer neoliberalen Gestalt, nämlich die größten Unternehmen zuerst und vollständig zu finanzieren und die kleineren Unternehmen nur am Rande zu berücksichtigen. Und dies, obwohl die kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland mit 57% den größten Anteil der Arbeitsplätze sichern /9/. Die sozial Schwachen werden bei den staatlichen Hilfen überhaupt nicht oder nur unwesentlich berücksichtigt.

Besser wäre es für uns Linke, bei konsequenter Anwendung der keynesianischen Prinzipien die richtigen Ziele zu formulieren und den Menschen zu helfen, die unter dem Medianverdienst liegen, der in 2019 bei 2.503,- Euro brutto betrug /10/. Rechnen wir die 9,4 Mio. Menschen, die 2018 eine Altersrente von weniger als 900,- Euro brutto im Monat erhielten /11/ noch dazu, dann sind mehr als 65 % der Menschen in unserer Bundesrepublik dringend auf die Verbesserung ihrer materiellen Situation angewiesen. Die Primärverteilung in der Bundesrepublik ist spätestens mit der Schaffung des Niedriglohnsektors vor fast 20 Jahren Jahr für Jahr zu niedrig ausgefallen. Sie muss in den nächsten Jahren mindestens um 20 bis 30 % steigen bei gleichzeitig sinkenden Steuern für die betroffenen 65% der Menschen.

Wir Linken müssen darauf bedacht sein, in unseren Argumenten nicht stets ins neoliberale Denken abzudriften und stattdessen in unseren  Argumentationen das bestehende neoliberale Weltbild zu negieren und die grundlegend anderen und heute neuen keynesianischen Prinzipien und die daraus resultierende MMT zu verstehen und anzuwenden.

Theoriefeindliche Tendenzen im linken Lager /12/ sind falsch und führen nur in ein fortschrittsfeindliches Sektierertum.

Wir Linken sollten uns der Realität stellen und uns zu den beschriebenen Erkenntnissen öffentlich bekennen und in der Gesellschaft weiter verbreiten.

Als Beispiel:

„Über 300.000 Haushalten in Deutschland wurde der Strom abgestellt, weil sie sich die hohen Strompreise, die höchsten in Europa, nicht mehr leisten konnten. Statt Milliarden in die Rüstung zu stecken, muss die Linke dafür mobilisieren, dass der Strompreis gesenkt wird.“/13/.

Ein weiteres Beispiel:
Eine Initiative von Aufstehen-Berlin fordert die Ingangsetzung einer Petition mit den folgenden Hauptforderungen:

  • Aufstockung aller Leistungen (ALG I, ALG II, Renten) auf mindestens 1.200,- Euro brutto als monatliche Grundsicherung;
  • einen sofortigen Mindestlohn von 12,50 Euro;
  • zinslose unbefristete Kredite für kleine und mittlere Unternehmen als die größte Anzahl Arbeitgeber in Deutschland /14/.

Das sind Beispiele klarer und konkreter linker Forderungen, die aktuell angemessen sind. Hierfür sollte es Konsens unter uns linken Kräften sein, dass diese Forderungen finanzierbar sind, zu ihrer Durchsetzung keine neuen Steuern erforderlich sind und ausschließlich der politische Wille maßgeblich ist.

Solche Forderungen, die sich am täglichen Erleben der betroffenen Menschen orientieren, sollten wir bei Aufstehen-Berlin finden und möglichst klar  benennen. Die „Linke“ muss wieder politisch argumentieren, nicht juristisch, moralisch und insbesondere nicht mit den Argumenten des marktradikalen Wirtschaftsmodells. Und dabei darf uns die zu erwartende Kritik des allgemein herrschenden Wirtschaftsverständnis nicht erschüttern.

Um es mit den Worten Rosa Luxemburgs zu sagen:

„Zu sagen, was ist, bleibt die revolutionärste Tat!“

4 Gedanken zu “Zu sagen, was ist

  1. Der Artikel ruft nach zwei Kommentaren, der erste zu seiner praktischen Seite, mit aufstehen für gemeinsame soziale Interessen einzutreten:
    Die genannten praktischen Forderungen nach Verbesserung der sozialen Lage sind dringend notwendig und müssen unterstützt werden:
    – Höhere Löhne
    – Sinkende Steuern für die unteren Einkommen
    – Ein Mindesteinkommen von 1200 Euro bzw.
    – einen entsprechenden Mindestlohn
    – soziale Absicherung auch für Selbständige und Kleinstunternehmer

    Die Vorschläge zur Durchsetzung bleiben allerdings aus. Den dafür notwendigen Lohnkampf bzw. dessen unbedingte Unterstützung zu benennen, fehlt bei den Vorschlägen. Lediglich ein dafür notwendiger politischer Wille, wo immer und von wem der auch kommen mag, findet sich dort.

    1. Über die Forderungen herrscht ja wohl Einigkeit. Über die Grundlagen bisher zum großen Teil Unkenntnis. Wahrscheinlich macht jede und jeder sie an den eigenen Überzeugungen fest. Um uns gemeinsam schlauer zu machen und uns für eine Diskussion mit Bürgern zu wappnen, und das ist im nächsten Jahr unvermeidlich, sollten wir endlich die Gelegenheit nutzen und mit der Bearbeitung der Themen anfangen, die wir uns zu Beginn vorgenommen haben. Dann könnten wir unsere Forderungen auch mit Grundlagenwissen hinterlegen. Den Mut dazu sollten wir aufbringen! Oder es ganz lassen.

  2. Der theoretische Anspruch des Artikel:

    Der Verfasser will a u f s t e h e n D i e S a m m l u n g s b e w e g u n g auf e i n e Theorie festlegen!
    “…sollten alle linken Kräfte ihre sozialpolitischen Programme auf den Prinzipien dieser bewährten keynesianischen Modelle bzw. ihrer Weiterentwicklung , der Modern Monetary Theory (MMT) aufbauen.“ Der Autor scheint bereitwillig eine Spaltung der Sammlungsbewegung riskieren zu wollen! Völlig unabhängig davon, wie die inhaltliche Kritik dieser Theorie geführt wird ist das anmaßend.

    Wozu eine Sammlungsbewegung, wenn eine von einer Minderheit ausgewählte Wirtschaftstheorie, deren Vergänglichkeit kaum zu übersehen ist, zur Voraussetzung für unsere praktische Politik gemacht werden soll? Da braucht man nicht in die kritische Analyse einsteigen, um diese Aufforderung abzulehnen. Das hat auch nichts mit Theoriefeindlichkeit zu tun.

    1. Der Verfasser des Artikels will Aufstehen von dieser Theorie überzeugen, weil er selbst davon überzeugt ist. Das ist alles andere als anmaßend. Andere Aufsteher sind von anderen Theorien überzeugt oder haben sich eigene gebastelt. So what! Sträflich ist nur, sich nicht auf eine inhaltliche Diskussion einzulassen, sondern sie in Bausch und Bogen abzulehnen, und das noch ohne Argumente.
      Es sieht so aus, als habe der Kommentator Angst vor einer Auseinandersetzung. Warum sonst fürchtet er die Spaltung, wenn jemand seine Meinung kundtut? Ich gehe davon aus, dass jede und jeder von uns eine eigene Meinung hat – sie aber in einer inhaltlichen Debatte immer noch nicht preisgeben kann. Darin sehe ich einen triftigeren Grund für eine Spaltung!

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