März 19, 2024

Identitätspolitik und Klassenbewusstsein

von Andreas Butt-Weise

Utopien, so schreibt Oskar Negt, sind „Kraftquellen jeder Emanzipationsbewegung“.

Oskar Negt: „Nur noch Utopien sind realistisch“

Das „überschreitende Denken“, ist in der Welt der neoliberalen Eindeutigkeiten, die einzige denkbare Alternative. Es ist die Voraussetzung einer realen Utopie, dem ursprünglichen Ziel einer besseren und gerechteren Welt näher zu kommen, in der die Menschen ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen gemäß in freier Selbstbestimmung leben (und arbeiten) können.

Aber gehört zu diesem „überschreitenden Denken“ auch die Wiederkehr des von Karl Marx entwickelten Hauptwiderspruchs, der dem Widerspruch von Kapital und Arbeit absoluten Vorrang einräumt?

Nach jahrzehntelanger Dominanz einer mikropolitischen Identitätspolitik im linken Diskurs, erwacht der makropolitische „Klassenkampf“ zu neuem Leben. Der Kapitalismus in Gestalt des Neoliberalismus lässt wieder deutlich zuweisbare Klassen mit jeweils eindeutigen Interessen hervortreten, und einen „Klassenkampf von Oben“, der das Konzept von Klassen und Klassenkampf unvermeidbar macht. Das Sichtbarwerden von Klassen ist in deutlich hervortretenden Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen erkennbar. Sie sind der Dreh- und Angelpunkt der Klassenpolitik.

Wollen wir nicht auf und in unserer diversen oder (negativ bezeichnet) atomistischen Gesellschaft mit einer Bewegung, wie die unsere, reagieren, die sich selbst nicht als monolithisch, sondern als komplex, dynamisch und teilweise widersprüchlich versteht?

Makro- und Mikropolitik

Richten wir zunächst einen Blick zurück und versuchen zu verstehen, wie, wann und warum es zu diesem Umschwung von der Makro- zur Mikropolitik kam. Seitdem Niedergang des Ostblocks und der Sowjetunion und der kommunistischen Idee und Utopie, dem Versagen der Praxis à la real existierenden Sozialismus, unter dem alle ‚linke‛ Theorie und Praxis der westlichen Hemisphäre zu leiden hatte, griff man in der Frage, wie die Welt zu verändern sei, nur noch bedingt auf Marx und den Marxismus zurück. So wurde aus der einen „großen Erzählung“ der Moderne bei vielen der „Neuen Linken“ und infolge der “Neuen sozialen Bewegungen” viele „kleine Erzählungen“, so wurden aus den universalistischen partikularistische Theorien.

Wenn man nun „kritisch“ aus der Mikropolitik ein „Gesums von Mikroerzählungen“ macht und mit dieser Bezeichnung  polemisch identitätspolitisch geprägte Bewegungen auf „hippe Ausdrucksformen und ästhetische Vorlieben“ zu reduzieren  versucht, negiert man die Tragweite rassistischer, nationalistischer, sexistischer und/oder homophober Unterdrückung und verkennt die existenzielle Dimension der dagegen gerichteten Kämpfe [1].

Kann Klasse eine Identität begründen?

Gibt es ein Klassenbewusstsein? Oder ist es eine gesellschaftlich definierte Position, die von allen nur erdenklichen Identitäten besetzt ist?Weist eine Identitätspolitik nicht auf die Diskriminierungsvorgänge einer Klassengesellschaft hin?

Die konträre Gegenüberstellung von Identitätspolitik  und Klassenpolitik ist eine grundfalsche, weil es doch der „Klassenwiderspruch“ ist, der „so sehr eins mit diesen „Umständen“ (ist), dass er nur durch sie und in ihnen zu erkennen, zu identifizieren und zu handhaben“ ist.  (Louis Althusser, Für Marx, S. 62)

Es ist verfehlt den noch lange nicht vollendeten Kampf für die Rechte von Minderheiten sausen zu lassen und auf die „einfachen Leute“ zu setzen, wie es gerade von überall her heißt!

Wer auf die “einfachen Leute” setzt, übersieht, dass  Unterdrückung oder auch Repression nicht nur einem Individuum, einer Gesellschaft oder Menschengruppe direkt zugefügte Gewalt meint, sondern auch die Umstände / Zustände, die in und durch Gesellschaft indirekt erlebt wird. Diese Form der Gewalt nennt man strukturelle Gewalt, die mehr oder auch weniger sichtbar in einer Gesellschaft institutionalisiert ist. Sie basiert auf den Strukturen der herrschenden bestehenden Gesellschaftsformation und begründet sich auf den allgemein anerkannten Werten, Normen, Institutionen oder Diskursen sowie Machtverhältnissen. Diese Verhältnisse definieren, welche Menschengruppe/n “minderwertig” oder rechtlos ist/sind.

Diskriminierung und Ausgrenzung

In vielen Fällen ist diese Form der sozialen Ausgrenzung ein Prozess, in dem Einzelpersonen oder ganze Gemeinschaften von Menschen systematisch verschiedene Rechte, Möglichkeiten und Ressourcen (oder der volle Zugriff darauf) verweigert bzw. aberkannt  werden, die normalerweise für die Mitglieder der „Mehrheitsgesellschaft“ zur Verfügung stehen. Die  soziale Desintegration bedeutet für die Betroffenen häufig die Behinderung bei der Wohnungs- und Arbeitssuche und die Verweigerung bürgerlichen Engagements, demokratischer Teilhabe und ordnungsgemäßer Verfahren / Prozesse.

Was heißt das nun für uns? Wir haben so Position zu beziehen, dass in der Debatte um eine „neue“ Klassenpolitik die Identitätspolitik ein integraler Bestandteil sein muss, weil Identitätspolitiken Symptome realer und struktureller Gewalt und Unterdrückung sind. Denn wenn wir „unsere“ pluralistischen Demokratien der westlichen Welt als repressive, ja „totalitäre“ Gesellschaften verstehen – wie Herbert Marcuse in seinem 1964 erschienenem Werk „Der eindimensionale Mensch“ -, die sich auf Indoktrination, Manipulation, Ausbeutung und Krieg gründen, dann ist es unser Anliegen, die unter die strukturelle Gewalt fallenden Formen der Diskriminierung anzuklagen und zu bekämpfen.

Wer diese Zusammenhänge gegeneinander ausspielt, der in einem „Hauptwiderspruchsdenken“ den Gedanken der sozialen Ungleichheit nach vorne spielt und gleichzeitig die individuelle Entfaltung als notwendige Vorbedingung für gesellschaftliche Emanzipation negiert, der nimmt die realen Gewalterfahrungen durch breite gesellschaftliche Schichten nicht ernst. Mit welchem Recht meint man eine Rangfolge der Unterdrückung zu behaupten und unterschiedlich erlittene Formen der Unterdrückung in ihrer Wertigkeit beurteilen zu können?

Hierarchie der Unterdrückung

Kann die Klassenunterdrückung schwerwiegender erachtet werden, als eine Frauenunterdrückung oder eine Rassendiskriminierung? Kann das eine als Hauptwiderspruch mehr an Gewicht haben, als das andere, der Nebenwiderspruch? Kann es eine Unterdrückungshierarchie bzw. eine „Diskriminierungshierarchie“ geben, die Formen der Diskriminierung zum Nebenwiderspruch erklären?

So wird an bestimmten neu-marxistischen Positionen kritisiert, dass sie das Begriffspaar Hauptwiderspruch (z.B. Lohnarbeit und Kapital) und Nebenwiderspruch (z.B. der Widerspruch der Geschlechterrollen) wieder in den Mittelpunkt kritischen Bewusstseins rücken. Das ist, wie wir im Folgenden sehen werden, nicht ganz verkehrt, geht man davon aus, dass ein Widerspruch durch einen anderen bestimmt oder bedingt sein kann. Der Hauptwiderspruch, von Friedrich Engels als Grundwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft bezeichnet, erwachse aus der Aneignung des gesellschaftlich erarbeiteten Produkts (Mehrwertes) durch den Kapitalisten.

Dieser Tatsache entspringen alle Widersprüche, die sich in unseren Gesellschaften auftun: Bourgeoisie und Proletariat / Lohnarbeit und Kapital. Was jedoch dieser Grundwiderspruch in seiner Abstraktheit nicht in Rechnung stellt und was Engels wohl wusste, ist, dass sowohl Lohnarbeit als auch Kapital in sich qua Konkurrenz jeweils von vielfältigen Widersprüchen durchzogen sind. Der Staat als ideeller Gesamtkapitalist wacht über das Gesamtinteresse des Kapitals, wodurch die Widersprüche der jeweiligen Kapitalfraktionen miteinander in ein (wenn auch wackliges) Gleichgewicht gebracht werden, wogegen sich die Widersprüche innerhalb der Arbeiterklasse ohne eine entsprechende Organisation verhärten.

Setzt man die Einsicht, dass die proletarische Identität als solche heterogen und widersprüchlich ist, mit der älteren Einsicht zusammen, das Herrschaft seit jeher dem Grundsatz “teile und herrsche” gehorcht, so folgt daraus erneut, dass wer Klassenpolitik fordert auf Identitätspolitik nicht verzichten kann und umgekehrt.  

Identitätspolitik und Neoliberalismus

Will man genanntem „Gegeneinander-Ausspielen” entgegenwirken, muss aktiv Begriffen, die dazu aufrufen Identitätspolitik bzw. Mikropolitik zu diskreditieren, entgegen getreten werden: “Pseudo-Politik” (Mark Lilla) oder “identitäre (…) Ersatzpolitik” (Wolfgang Streeck), „Identitätsfetisch“ oder “Vielfaltseuphorie”[2] … und viele andere.

Der Vorwurf bei der Identitätspolitik handele es sich um eine Politik der ersten Person, um reinen Egoismus oder gar um eine separatistische Haltung, ignoriert dass auf ein  gesellschaftlich zugeschriebenen Stigma nur mit einer erwiderten Distanzierung und Rückbesinnung auf sich selbst aufmerksam gemacht werden kann.

Auch wenn eine Kritik von identitätspolitischen Bewegungen berechtigt erscheint, dass sie sich für den Horizont des “Gemeinsamen” nicht (mehr) interessieren, sozioökonomische Ungleichheiten ausblenden und in immer kleineren Verästelungen Differenzen individualisieren, sollten wir mit Verständnis angesichts ihrer Situation reagieren. Das muss und kann nur unsere Haltung gegenüber den sich ausgegrenzt und marginalisiert fühlenden Menschen sein. Auch wenn der Eindruck entstanden ist, diese zunehmende Vereinzelung der unterschiedlichsten Interessen diene in letzter Konsequenz lediglich der neo-„liberalen“ Denkweise – sie sei das erfolgreiche Ergebnis, die Gesellschaft in einzelne Individuen zu atomisieren.

Wir können dieser ubiquitären („überall verbreiteten“) Chiffre für die Probleme der Linken nicht ausweichen, denn – so wird behauptet – die “Identitätspolitik” habe Verantwortung für den Erfolg der Neuen Rechten. Sie sei partikular und habe den Blick auf die großen Fragen der Zeit verstellt, sei akademisch-elitär. Dieser Behauptung muss schon allein deshalb entgegengetreten werden, weil rassistische, antisemitische und sexistische Positionen durch rechte Kräfte in einer neuen Quantität und “Qualität” artikuliert werden. Es wird Sturm gelaufen gegen Bündnisse „neuer“ sozialer Bewegungen‘ (Feminismus, Antirassismus, Multikulturalismus und LGBTQ). Damit geraten Errungenschaften sozialer Bewegungen unter Druck, die maßgeblich seit den 68igern den kritischen Diskurs bestimmen. Es kann nicht sein, dass sich in der “Anti-Identitätspolitik”-Diskursgemeinschaft sowohl  (links-)liberale und klassenpolitische Akteur*innen mit Konservativen und Reaktionären zusammenfinden.

Es gilt die Identitätspolitik – also Gender-Mainstreaming und multikulturelle Diversitätspolitiken – “Black Lives Matter” – nicht als Abgrenzungsfolie zu missbrauchen, sondern ihr Kernanliegen deutlich zu machen: es ist eine Politik der Antidiskriminierung und Herrschaftskritik. Sie ergreift Partei für alle, denen eine Existenz als Subjekt unter Gleichen verwehrt wird! In dieser „Tradition“ liegt das Potenzial für einen rebellischen Universalismus, der auch für eine neue Klassenpolitik unverzichtbar ist.

Kampf gegen Diskriminierung und Kampf für soziale Gerechtigkeit

Ist eine Synthese möglich? Haben wir den Willen und die Kraft, diese disparaten Ansätze der Herrschaftskritik aufzunehmen und sinnvoll zu koordinieren? Solange wir dieses „bunt durcheinander wirbelnde Gerechtigkeitskonfetti“ /3/ nicht in seiner historisch gewachsenen Notwendigkeit anerkennen, solange wird der Willen zu einer gerechten und solidarischen Gesellschaft durch den Willen zur Selbstgerechtigkeit ersetzt (John Rawls: «Eine Theorie der Gerechtigkeit» (1971)). Dies führt zu einer  „Provinzialisierung des Denkens und Handelns“ und „einem Klientelismus der Identitäten“./3/  Trotz aller Pluralität entwickele sich keine Politik des gemeinsamen Interesses an einer Überwindung unserer repressiven Gesellschaft. Für das Erkämpfen dieses Ziels steht eine offene und respektvolle Auseinandersetzung, denn ohne Dissens gibt es keine „wahre“ Politik der Emanzipation!

Die Auseinandersetzung zwischen “Sozialkritik” und “Künstlerkritik”, also zwischen der Klassenpolitik und der Identitätspolitik sollte das Ziel haben, sowohl gegenseitige Anerkennung der Ziele der anderen „Partei“ als ein gemeinsames Anliegen: so gelte für beide Politiken das Paradigma der sozialen Gerechtigkeit sowie der Selbstverständlichkeit der Autonomie, d.h. der Selbstbestimmung und Selbstentfaltung der Individuen.

Es gibt kein schöneres Gefühl, als wenn man gegen einen „übermächtigen Feind“ kämpft, von unerwarteter Seite Solidarität zu erfahren. Diese Solidarität sollte für uns ein unhinterfragtes Bewusstsein sein, denn die Bereitschaft eines Individuums oder einer Gruppe, einem anderen Individuum oder einer anderen Gruppe bei der Durchsetzung seiner oder ihrer Rechte zu helfen“, sollte für uns selbstverständlich sein. Hierfür braucht es allerdings ein gemeinsames Anliegen, das als ein gerecht wahrgenommenes Ziel erkannt und als ein Resultat von gemeinsamen Gesprächen und Aushandlungsprozessen entstehen sollte.

Wollen wir gemeinsam die Atomisierung der Gesellschaft überwinden, müssen wir lernen, trotz einiger Unterschiede / Differenzen, füreinander einzustehen: Es gilt, dass jeder einzelne sich nach seinen Möglichkeiten für das Ganze (seinen Nächsten) einsetzt, und das Ganze (jeder Einzelne) jeden Einzelnen respektiert und ihn in seiner Entwicklung als Individuum und Persönlichkeit fördert. Wir sollten voneinander einfordern, dass unsere Bewegung nicht nur in ihrer Form, sondern auch in ihren Inhalten eine befreite Gesellschaft antizipieren (wiederspiegeln) sollte. Denn was ist eine Organisation wert, der es um Emanzipation geht, die aber die bestehenden Widersprüche in sich nur wiederholt, anstatt einen anderen Umgang damit zu finden?

Wenn wir uns als „Linke“ verstehen, ist es notwendig, dass Klassen- und Anerkennungsfragen, soziale Rechte und Freiheitsrechte nicht gegeneinander ausgespielt werden, nicht in unserer Gesellschaft und ebenso wenig unter uns.

Aufstehen sollte stehen gegen Ressentiments, Rassismus und offenen Hass; aufstehen für Minderheiten, Marginalisierte und Unterprivilegierte!

Es sind eben sämtliche Formen der Diskriminierung, die unter die strukturelle Gewalt fallen ernst zu nehmen. Von da ausgehend wäre ein naheliegendes gemeinsames Thema, die ungleiche Verteilung von Einkommen, Bildungschancen und Lebenserwartungen, sowie das Wohlstandsgefälle innerhalb der ersten und zwischen dieser und der Dritten Welt.

Links oder Rechts

Wollen wir das emanzipatorische Erbe der Neuen sozialen Bewegungen nach 1968 nicht ad absurdum führen, können wir von Aufstehen nicht mit einer “Rhetorik der Zärtlichkeit”[4] die nach rechts Gewendeten, die sich angeblich vom moralischen Joch der Linken befreien wollen, umgarnen. Unterschätzt wird von denen, die hier gewisse „Zurückgewinnungsstrategien“ im Kopf haben, dass es auch Menschen gibt, die selbst gesellschaftlich ausgegrenzt sind, sich eine andere Gruppe suchen, auf die sie herabschauen können. Wenn z.B. Asylsuchende als „Sündenböcke“ herhalten müssen, geht es darum, Schuldige für die eigene missliche Lage zu finden. Wer auf  gerechte Verteilung, den Nationalstaat und eine Begrenzung von Migration setzt, ist für die Kombination von durchaus sozialpolitisch „linken“, aber gesellschaftspolitisch autoritären Positionen.

Die hier beschriebenen und problematisierten klassenpolitischen Ansätze setzen auf eine Revitalisierung der Klassenfrage im nationalen Kontext und damit – entgegen der Tradition des Internationalismus der Arbeiterbewegung – auf einen migrationskritischen “Linksnationalismus”. Über die Verschmelzung der Pole Klasse und Nation ergeben sich Anschlusspunkte zu den Mitläufern der „Neuen Rechten“ oder der den „Querdenkern“ jeglicher Couleur.

Die Vorstellung mit einem linksnationalistischen (wenn es denn so etwas überhaupt geben kann) Elite-Volk-Dualismus die „Linke“ wieder erstarken lassen zu wollen, ist unberechenbar bis höchst gefährlich. Denn auch wenn der Umstand, dass die Klassenfrage zurück in der öffentlichen Debatte ist, dass materialistische Analysen (wieder) wahrgenommen und klassenpolitische Leerstellen von Antidiskriminierungspolitiken herausgefordert werden, zu begrüßen ist, lauert hier eine Gefahr und keine emanzipatorische Alternative zur „Neuen Rechten“.

Nicht mehr Klassenkampf und nicht weniger Regenbogenpolitik

Also was nun? Gehen wir von Aufstehen Hand in Hand mit denjenigen, die seit Jahrzehnten für ihre individuellen Rechte auf die Straße gehen, verteidigen wir ihre Rechte als Minderheiten, treten wir denen entgegen, die den Widerstand gegen Rassismus, Sexismus oder Homophobie zur Ursache derselben erklären, kämpfen wir gemeinsam mit ihnen für eine ethnische oder geschlechtsspezifische Unterschiede übergreifende sozioökonomische Veränderung in unserem Land.

Geben wir den autoritären, orthodoxen Gedanken keine Chance,

setzen wir uns ein für eine libertäre, tolerante Zukunft!

 Silke van Dyk/Stefanie Graefe, Identitätspolitik oder Klassenkampf? Über eine falsche Alternative, in: Karina Becker/Klaus Dörre/Peter Reif-Spirek (Hrsg.), Arbeiterbewegung von rechts? Frankfurt/M.–New York, S. 337–354, hier S. 346.

Dirk Jörke/Nils Heisterhagen, Was die Linken jetzt tun müssen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.1.2017, S. 9.

https://www.nzz.ch/feuilleton/die-identitaetspolitik-mit-john-rawls-bekaempfen-ld.1477125

Max Czollek, Desintegriert euch, München 2018, S. 117.


2 Gedanken zu “Identitätspolitik und Klassenbewusstsein

  1. Individuelle Identität steht im Kontrast zu Klassenbewusstsein, das sollte wohl klar sein, oder?

    Identitätspolitik ist in der Tat eine Fetischisierung von Opferbewusstsein, von Selbstgerechtigkeit. Wer ist der (oder die 🙂 Unterdrückteste von allen? Wer ist der/die Gerechteste? Wer ist der/die größte Freak, die kleinste Minderheit?

    Seltsamerweise sind in den freiesten Gesellschaften diese Rufe der Empörung am lautesten. Wir haben es schon arg schwer hier in Deutschland, oder? Ach ja stimmt, die ganzen Nazis, überall sind sie doch. Für einen Hammer sieht jedes Problem aus wie ein Nagel …

    Hier geht es längst nicht mehr um eine durchdachte Ideologie, hier geht es vor allem und das eigene Ego, mit seinem verletzten Stolz, seinen Ängsten und unerfüllten Bedürfnissen. Schrei nach Liebe, nach Anerkennung.

    Das ist was die “linke” Bewegung zersetzt, was blind macht für die SYSTEMATISCHEN Ursachen in der Basis unserer Gesellschaftsordnung. Identitätspolitik ist neoliberale Sozialpolitik, Bauernfang, CoIntelPro im großen Stil. Der Autor zeigt nur, daß er die Problematik nicht verstanden hat. Kritik von Identitätspolitik ist keine Ablehnung von Gleichberechtigung und sozialer Gerechtigkeit. Im Gegenteil. Identitätspolitik ist ein Werkzeug, das die Gräben nur noch größer werden lässt, ein Spaltkeil.

    Nun knickt also auch Aufwachen ein. So wird das nix, Leute. Im vermeintlich “linken” Lager fischen, back to the roots. Da seid ihr eh schon als Querfront verschrien. Also bleibt nur noch die Irrelevanz.

    1. Als Verfechterin der Klassenpolitik möchte ich nicht die Augen vor den Missständen verschließen, die die Identitätspolitik aufgreift: die Ungleichbehandlung der Geschlechter, die Missachtung von Menschen wegen ihres Geschlechts bzw. ihrer sexuellen Ausrichtung, die verdeckte oder offene Art, Rassismus auszudrücken. Wir sollten uns auch als Linke nicht damit begnügen, sie lediglich festzustellen und zu beklagen, sondern auch für deren Abhilfe zu sorgen. Es reicht nicht aus und ist eher kontraproduktiv, Statuen vom Sockel zu werfen, Straßen umzubenennen, alte Bücher umzuschreiben, „Sprachpolizei“ zu spielen und Denkverbote zu erteilen. Hier muss die Klassenfrage ins Spiel kommen – und zwar jetzt – um tiefer zu den Ursachen bohren und den Willen zur Veränderung unter Beweis zu stellen. Sonst ist der Spaltkeil unvermeidlich.
      Das Kollektiv der Arbeiterschaft gibt es bedauerlicherweise schon lange nicht mehr, im Westen seit den 70ern abgebaut und im Osten nach der Wende nicht wieder aufgebaut. Hier muss etwas Neues an die Stelle treten. Das dürfte aber nicht nur den Nationalstolz bedienen, sondern sollte auch auf die veränderten Bedingungen in einer Welt eingehen, in der in überwindbaren Grenzen Handel betrieben wird. Eine Art Mauer um uns zu bauen und zu tun, als wären wir die alleinigen Herrscher, funktioniert heute auch nicht mehr – das hat die USA bereits leidvoll erfahren und England steht es noch bevor.
      Es ist schmerzlich zu beobachten, wie sich die Linke inzwischen gegenseitig bekämpft, statt sich auf ihre eigentlichen Gegner zu konzentrieren und sich von ihnen abzusetzen. Ich würde nicht von Zersetzung sprechen, für mich ist dieser Begriff verbrannt. Das Klassenbewusstsein hat in der Tat an Bedeutung eingebüßt. Die Auslagerung von Produktionen in Billiglohnländer in den offenen Märkten, die Schwächung der Gewerkschaften, die sich nur noch für ihre Stammbelegschaft engagieren, die atypischen Arbeitsverhältnisse etc., hat die Situation für die Arbeiterschaft extrem verschlechtert. Einige Industriearbeitsplätze gehören (noch) zu den privilegierteren. Aber längst sind die gesellschaftlich produktiven Beschäftigungen die am wenigsten wertgeschätzten und gehören demnach zu den am schlechtesten bezahlten. Daran rütteln auch die Rechten (Neonazis) nicht. Sie engagieren sich nur wortgewaltig für diese Klientel; in der Realität vertreten sie keinerlei Maßnahmen, die diese Missstände abbauen helfen.
      Aufstehen (nicht Aufwachen) ist eine Bewegung, die aus vielfältigen Positionen und Meinungen besteht. Uns ist daran gelegen, ins Gespräch mit anderen Unzufriedenen zu kommen. Dabei geht es uns nicht um ein KO des Kontrahenten, sondern um einen Austausch von Argumenten, bei dem die Diskutanten „am Leben bleiben“. Auch die Irrelevanz können wir verkraften; in der haben wir allzu lange gelebt. Den Vorwurf der Querfront verstehe ich allerdings nicht.

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