Dezember 3, 2024

„Ich bereue nichts!“

 Vor 75 Jahren:

Die Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher

von Jochen Thiessow

Im Vorfeld des Prozesses.

Am 21. November 1945, also ein gutes halbes Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs, begann in Nürnberg der Prozess gegen 21 Hauptkriegsverbrecher mit der berühmten Eröffnungsrede des US-Anklägers Robert H. Jackson.

In dem überraschend kleinen Saal des Justizpalastes, der noch heute besichtigt werden kann, saßen sich Ankläger und Angeklagte von Angesicht zu Angesicht in nur geringer Entfernung gegenüber. Der Eröffnungsrede des US-Anklägers folgten später die Reden der britischen, französischen und sowjetischen Anklage. Das Schlussplädoyer übernahm der britische Chefankläger Shawcross.

Nicht weniger als 21 Nachbarstaaten Hitlerdeutschlands waren an dem Prozess gegen die  Hauptkriegsverbrecher beteiligt. Die USA, die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich vertraten die übrigen 17 Staaten im Prozess: So vertrat z.B. Frankreich die Staaten Belgien, Niederlande, Luxemburg, Norwegen und Dänemark, die Sowjetunion vertrat Polen, die Tschechoslowakei und Jugoslawien. Nach schwierigen Verhandlungen hatten die Alliierten am 8.8.1945 das Londoner Statut unterzeichnet, das den Prozessablauf festlegte.

Auf der Pressetribüne war die gesamte Weltpresse vertreten, darunter waren bekannte Namen wie Willy Brandt, Alfred Döblin, Ernest Hemingway, Erich Kästner und Markus Wolf.

Angeklagt waren zunächst (nur) 24 Hauptkriegsverbrecher. Das hatte einen profanen Grund: Im Schwurgerichtssaal in Nürnberg gab es auf der Anklagebank nur 24 Sitzplätze. Gegen 3 der ursprünglich 24 Angeklagten konnte nicht verhandelt werden: Martin Bormann, Leiter der NSDAP-Parteikanzlei, war schon tot, was man aber erst Jahrzehnte später erfuhr; Robert Ley, Leiter der Deutschen Arbeitsfront, hatte am 25.10.1945 Suizid begangen;  gegen den schwerkranken Industriellen Gustav Krupp von Bohlen und Halbach wurde das Verfahren aus gesundheitlichen Gründen eingestellt.

So verblieben 21 Angeklagte, auf die wir unten noch näher eingehen, an ihrer Spitze Göring und Heß.

Im Vorfeld des Prozesses mussten zahlreiche Differenzen zwischen den Alliierten beigelegt werden. Das betraf die Hauptanklagepunkte und heikle Fragen (wie z.B. den Hitler-Stalin-Pakt/Ribbentrop-Molotow-Pakt oder die mögliche Anwesenheit von SS-General Karl Wolff auf der Anklagebank), die am Ende einvernehmlich zu Tabuthemen erklärt wurden, um den Angeklagten keine Gelegenheit zu geben, die Ankläger während der Verhandlung in irgendeiner Weise vorzuführen.

In den USA gab es durchaus Gegner des geplanten rechtsstaatlichen Verfahrens: Finanzminister Morgenthau z.B. propagierte 1944 die radikale Lösung, Naziverbrecher zu identifizieren, kurzen Prozess zu machen und sofort zu erschießen. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass der Historiker Götz Aly 2019 schrieb, dass in Deutschland und Österreich etwa 300.000 Kriegsverbrecher wegen schwerer Kriegsverbrechen hätten vor Gericht gestellt werden müssen. Dazu mehr am Schluss.

Die Lektüre der Anklageschriften ist eine Offenbarung sondergleichen:

Die Eröffnungsrede von Hauptankläger  Robert H. Jackson (USA):

„Ankläger sind Wir – die Zivilisation!“

Und so begann Jackson seine Rede am 21.11.1945:

„Hoher Gerichtshof! Der Vorzug, eine Gerichtsverhandlung über Verbrechen gegen den Frieden der Welt zu eröffnen, wie sie hier zum erstenmal in der Geschichte abgehalten wird, legt uns eine ernste Verantwortung auf. Die Untaten, die wir zu verurteilen und zu bestrafen suchen, waren so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung, daß die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen, sie würde sonst eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben. … Man mag sich beim Anblick dieser armseligen Gestalten, wie sie hier als Gefangene vor uns sind, kaum die Macht vorstellen, mit der sie als Nazi-Führer einst einen großen Teil der Welt beherrscht und fast die ganze Welt in Schrecken gehalten haben. … Sie sind, wie wir zeigen werden, lebende Sinnbilder des Rassenhasses, der Herrschaft des Schreckens und der Gewalttätigkeit, der Vermessenheit und Grausamkeit der Macht. Sie sind Sinnbilder eines wilden Nationalismus und Militarismus… .“

(Die gesamte Rede ist in deutscher Sprache abgedruckt in dem Buch „ Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46. Die Reden der Hauptankläger.“  Erschienen bei der Europäischen Verlagsanstalt, herausgegeben vom Nürnberger Menschenrechtszentrum, erhältlich im Buchhandel und mit etwas Geduld über die Stadtbüchereien. Dieses Buch bildet auch die Grundlage dieses Berichts; weitere Quellen sind am Schluss genannt).

Im weiteren Verlauf äußert sich Jackson zur Vorgeschichte des Prozesses, sodann beschreibt er den gesetzlosen Weg der Angeklagten zur Macht und die Befestigung dieser Macht. Im zweiten Teil befasst er sich mit dem Kampf der Nazis gegen die Arbeiterklasse, gegen die Kirchen und mit den Verbrechen gegen die Juden. Weitere Themen sind die Schreckensherrschaft, die Kriegsvorbereitungen und die Verbrechen bei der Führung des Krieges. Dabei erläutert er die vier Hauptanklagepunkte Verschwörung, Angriffskriege, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit. Es sind dies Anklagepunkte, mit denen das Gericht zum Teil juristisches Neuland betrat. Am Schluss sagt Jackson: „…Die wahre Klägerin vor den Schranken des Gerichts ist die Zivilisation. … Die Zivilisation fragt, ob das Recht so zaudernd und träge sei, daß es gegenüber Verbrechen, begangen von Verbrechern von so hohem Rang, völlig hilflos ist. …“

Vier  Hauptanklagepunkte:

Mit „Verschwörung“ („conspiracy“) (I) und „Verbrechen gegen den Frieden“ (II) waren vor allem die planmäßige Vorbereitung und Durchführung von Angriffskriegen gegen die Nachbarstaaten gemeint, mit „Kriegsverbrechen“ (III)  vor allem Verbrechen bei der Kriegführung, Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung und an Kriegsgefangenen, mit „Verbrechen gegen die Menschheit/Menschlichkeit“ („crimes against humanity“) (IV) waren vor allem Massenhinrichtungen und andere, „atrocities“ genannte Massenverbrechen an Zivilbevölkerungen gemeint.

Man bemühte sich dabei, verantwortliche Vertreter aus   a l l e n  Bereichen des NS-Regimes, also aus Regierung, Staat, Partei, Militär, Wirtschaft, Polizei und Organisationen vor (das) Gericht zu bringen. Kriegsverbrecher, die wegen Verbrechens in nur  e i n e m  Staat angeklagt werden sollten, wurden an das betreffende Land ausgeliefert. Nürnberg war das Internationale Gericht.

Als „verbrecherische Organisationen“, die an dem gemeinsamen Plan (I) entscheidend mitgearbeitet hatten, wurden eingestuft: NSDAP, SS, SD und Gestapo.

Beweise der Wahrheit:  Deutsche Akten, prominente Zeugen, Filme!

Alle Vorwürfe gegen die Angeklagten entsprachen der Wahrheit, weil sie allesamt bewiesen werden konnten mit Massen von deutschen Dokumenten und deutschen Akten, die bei den Tätern gefunden wurden und die von ihnen eigenhändig unterschrieben waren: Exakte deutsche Buchführung über den Massenmord, über Befehle und Vollzug! Bemerkenswert ist, dass die Wahrheit der dargestellten Vorwürfe von den Verteidigern daher nie in Frage gestellt worden ist. Der Vorwurf der „antideutschen Propaganda“ kam bei der Vorführung von KZ-Filmen in deutschen Städten auf. Nicht aber in Nürnberg.  Den Anwälten konnte es nur darum gehen, die Verantwortlichkeit der Angeklagten zurückzuweisen und juristische Einwände gegen den Prozess zu formulieren.

Angesichts der unfassbaren Dimensionen der Naziverbrechen vom Atlantik bis zum Ural und von Norwegen bis Griechenland ist es müßig, nach problematischen juristischen Aspekten bei dem Prozess zu suchen. Diese gab es zweifelsohne und mit Menschen, die diese problematischen Aspekte seriös diskutieren wollen, muss man das auch diskutieren. Nicht aber mit Nazis und ihren geistigen Komplizen.

Der verheerende Krieg war gerade erst zu Ende gegangen. Viel Zeit zur Vorbereitung und Aufbereitung des Beweismaterials war nicht vorhanden. Allerdings hatten die Alliierten schon Jahre zuvor mit dem Sammeln von Dokumenten über Kriegsverbrechen begonnen.

Zeugen: Dennoch begnügte man sich nicht mit papierenen Akten. Es traten einige prominente Zeugen auf, unter ihnen der deutsche Stalingrad-General Paulus, der ehemalige Auschwitz-Lagerkommandant Rudolf Höß (1947 in Polen hingerichtet) und der SS-Einsatzgruppenchef Ohlendorf, der vor dem Gericht die Ermordung von 90.000 Juden eingestand, was in der Verhandlung „wie eine Bombe“ einschlug (Ohlendorf wurde wegen dieser Massenverbrechen im Einsatzgruppenprozess, einem der 12 Nachfolgeprozesse  mit  US-Ankläger Benjamin Ferencz, der in diesen Tagen 100 Jahre alt wurde, zum Tode verurteilt und gehängt).

Filme: Neu waren Filmvorführungen während des Prozesses in Anwesenheit der Angeklagten. So mussten sich diese den KZ-Film „Nazi concentration camps“ ansehen und ihre Reaktionen darauf wurden von allen im Gerichtssaal beobachtet.

Der Film „The Nazi Plan“ mit Wochenschauaufnahmen diente dazu, nachzuweisen, dass die Nazis von Anfang an einen gemeinsamen Plan verfolgten („conspiracy“). Das Gericht nahm in Kauf, dass die Angeklagten noch einmal Aufnahmen aus ihrer aktiven Zeit ansehen durften, was sie sichtlich erfreute.

Die Rede des französischen Hauptanklägers Francois de Menthon am 17.1.1946:

De Menthon hielt sein Plädoyer „im Namen der unterdrückten und geknechteten Völker“ Frankreichs, Belgiens, der Niederlande, Luxemburgs, Norwegens und Dänemarks. Anders als die USA vertrat Frankreich die These von der kollektiven Schuld des deutschen Volkes. Zu den wichtigen Anklagepunkten gehörten Zwangsarbeit, Ausplünderung und Gewaltverbrechen an Zivilisten und Kriegsgefangenen. Die Basis dieser Verbrechen war die NS-Rassenlehre, die die Deutschen zum Herrenvolk und die „deutsche Volksgemeinschaft“ über die „Bastard- und Sklavenvölker“ Resteuropas erhob. Dazu kamen die Lebensraumideologie, das Führerprinzip und eine massive Aufrüstung, die mit Friedfertigkeit getarnt wurde, weil es angeblich ja „nur“ um die Auslandsdeutschen ging, die „heim ins Reich“ geholt werden sollten, angefangen mit dem Saargebiet 1935. Nazideutschland brach Verträge und das Völkerrecht, trat aus dem Völkerbund aus und betrachtete Krieg von Anfang an als einziges Mittel, deutsche Interessen zu vertreten.

Im weiteren Verlauf seiner Rede ging de Menthon auf Geiselhinrichtungen in den von Nazideutschland besetzen Ländern ein, auf Polizeiverbrechen (Folter, Misshandlungen), Deportationen und Internierungen in KZ, die in allen besetzten Staaten stattfanden. Hierzu gehörten auch die „Nacht- und Nebel“-Gefangenen. Diese und andere Verbrechen gegen Kriegsgefangene, den Terror der Wehrmacht und der deutschen Polizei gegen die Widerstandsbewegung lastete de Menthon dem Angeklagten Keitel als Oberkommandierenden der Wehrmacht direkt und persönlich an. Bei den Verbrechen an der Zivilbevölkerung ging de Menthon auf das Niederbrennen von Dörfern und die Massaker von Maillé und Oradour ein. Für die millionenfache Zwangsarbeit wurde der Angeklagte Sauckel als „Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz“ direkt und persönlich  verantwortlich gemacht.

Am Schluss stellte de Menthon fest: „Das Kriegsverbrechen ist im Völkerrecht sowie im nationalen Recht aller modernen Zivilisationen bekannt.“  Es gab auch seit 1941 diesbezügliche internationale Warnungen an die Adresse der NS-Führung, die diese in siegessicherer Herrenmenschenmentalität  ignorierte.

Die Kriegsverbrechen Nazideutschlands allein in Frankreich und in den anderen von de Menthon vertretenen westeuropäischen Staaten waren so brutal und grausam, dass man sich zum einen nicht wundern durfte, dass Frankreich für alle Angeklagten ausnahmslos die Todesstrafe verlangte und dass man zum anderen aus heutiger Sicht staunen und würdigen muss, dass es nur wenige Jahre später – trotz des Kollektivschuldvorwurfs –  zur Gründung der EU der Sechs und zum deutsch-französischen Freundschaftsvertrag kam.

Die Rede des sowjetischen Hauptanklägers Roman Rudenko am 8.2.1946:

Mit 27 Millionen Toten trug die Sowjetunion die Hauptlast eines Krieges, der von Nazideutschland ab dem 22.6.1941 in jeder Weise als Vernichtungskrieg geführt wurde. Die Ermordung von Millionen Kriegsgefangenen war beispiellos. Die Sowjetunion war ein Hauptschauplatz des Holocaust. Die Rote Armee schlug die Armeen der Wehrmacht unter unsäglichen Verlusten zurück und besiegte noch im April 1945 unter wieder schweren Opfern den Rest der Hitlerarmeen vor unserer Haustür in den Schlachten auf den Seelower Höhen an der Oder, in der Kesselschlacht von Halbe und in der finalen Schlacht um Berlin. Es war der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg.

Nach langwierigen Diskussionen im Vorfeld des Prozesses ging Hauptankläger Roman Rudenko vor allem auf folgende Kriegsverbrechen ein (die in dem o.a. Buch zum Prozess in dieser Reihenfolge aufgelistet sind): Massenmord an Zivilisten, Folterung und Ermordung der Kriegsgefangenen, Zwangsarbeit, Zerstörung von Städten und Dörfern, Raub des öffentlichen und privaten Eigentums, Zerstörung und Raum von Wissenschaftsgütern, Klöstern, Kirchen und anderen religiösen Kultstätten…

Im Rahmen seines Vortrags zu den „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ kam Rudenko auf die NS-Vernichtungspolitik gegenüber den europäischen Juden zu sprechen. Im Kommentar zu Rudenkos Rede wurde darauf verwiesen, dass der Nürnberger Prozess „der erste internationale Prozess war, der sich mit dem Massenmord an den Juden auseinandersetzte und diejenigen strafrechtlich belangte, die diesen Massenmord politisch und militärisch zu verantworten hatten“.

Roman Rudenko schilderte die Angriffspläne der Nazis 1938 bis zum Angriff auf die Sowjetunion am 22.6.1941. Diese Schilderungen nahmen in der knapp 50seitigen Anklageschrift natürlich einen breiten Raum ein. Gegen Ende seiner Darstellung listete Rudenko die materiellen Schäden auf, die ein eindrückliches Bild von den Dimensionen der verheerenden Zerstörung seines Landes vermitteln. Wörtlich formulierte er:

“Die deutschen faschistischen Eindringlinge zerstörten oder verbrannten ganz oder teilweise 1.710 Städte und über 70.000 Dörfer und Siedlungen, verbrannten oder zerstörten über 6 Millionen Gebäude. Unter den beschädigten Städten, die am meisten gelitten haben, waren die großen Industrie- und Kulturzentren Stalingrad, Sewastopol, Leningrad, Kiew, Minsk, Odessa, Smolensk, Nowgorod, Pskow, Orel, Charkow, Woronesch, Rostow am Don und viele andere.

Die deutschen faschistischen Eindringlinge zerstörten 31.850 Industriebetriebe, … , 65.000 km Eisenbahnschienen, 4.100 Eisenbahnstationen, 36.000 Post- und Telegraphenstellen, … , 40.000 Spitäler, … , 84.000 Schulen, … , 43.000 öffentliche Bibliotheken.

Die Hitleristen zerstörten und plünderten 98.000 Kolchosen, 1.876 Staatsgüter, … .“

Den Gesamtschaden bezifferte Rudenko auf 679 Milliarden Rubel.

(Quelle:  Das Internationale Militärtribunal , S.324/325)

Die Schlussrede des britischen Hauptanklägers Hartley Shawcross am 26.7.1946:

In seiner Schlussrede ging der britische Hauptankläger im Juli 1946 auf eine Reihe von Kriegsverbrechen ein, die zuvor keine Erwähnung fanden. Die Lektüre dieser Anklagen ist kaum erträglich. Das waren die Verbrechen gegen die Menschheit/Menschlichkeit („humanity“), vor allem die Verbrechen gegen die Juden, gegen Kriegsgefangene, gegen die Ermordung von Offizieren der Royal Air Force und gegen die Behandlung der Nacht-und-Nebel-Gefangenen, die die Nazis haben verschwinden lassen. Das waren die Seekriegsverbrechen der angeklagten Marineoberbefehlshaber Raeder und Dönitz, das waren die

8 Millionen Sklavenarbeiter in Deutschland, das war der planmäßige Völkermord an der polnischen Intelligenz, an den Juden, an den Zigeunern, wie sie damals noch genannt wurden, das war die „Vernichtung durch Arbeit“, das Verhungernlassen von Gefangenen, der Kinderraub, das Schicksal Polens als Land insgesamt. Und das war der „Gnadentod“, die Ermordung von 275.000 „Euthanasie“-Opfern.

Hartley Shawcross ging am Ende seines Schlussplädoyers  auf jeden Angeklagten einzeln ein, weil man aus juristischen Gründen jedem einzelnen Angeklagten seine persönliche Schuld nachweisen wollte.

Das Führerprinzip wurde als Methode zur Überwindung jeglicher Skrupel bei den jungen Deutschen herausgestellt. Von den Angeklagten aufgebaut, wurde es über den angeklagten Reichsjugendführer Baldur von Schirach der gesamten deutschen Jugend aufgedrückt.

Die Lektüre der vier Reden ist für die deutsche Leserschaft eine Offenbarung, weil hier die Anwälte der Opfer sprechen und eben nur diese. Ihre Darstellung der Kriegsverbrechen ist schonungslos.  Die Lektüre versetzt auch gutinformierte Leser selbst 75 Jahre nach dem Geschehen noch in nacktes Entsetzen über die offenbar werdenden tatsächlichen Dimensionen der Nazi-Massenverbrechen zwischen 1933 und 1945.

In den Reden der Ankläger wurden auch die Anfänge des Naziterrors ausdrücklich genannt: Es sind die Folterungen und Ermordungen von Gefangenen in den Kellern des SA-Gefängnisses Papestraße ab März 1933 am heutigen Bahnhof Südkreuz (Gedenkort Werner-Voß-Damm 54a) und im KZ Columbia am Columbiadamm in Tempelhof (vgl. Foto des Mahnmals für das ehemalige KZ Columbia am Kopf des Artikels).

Folterkeller des ehemaligen SA-Gefängnisses Papestraße

Die Angeklagten und die Urteile:

In ihrem Schlusswort erklärten sich die Angeklagten für „nicht schuldig“. 

Die Urteile lauteten: „Tod durch den Strang“

Hans Frank, Generalgouverneur in Polen

Wilhelm Frick, Reichsinnenminister

Hermann Göring, Reichsluftfahrtminister

Alfred Jodl, Chef des Wehrmachtsführungsstabs

Ernst Kaltenbrunner, Leiter des Reichssicherheitshauptamts

Wilhelm Keitel, Oberkommando der Wehrmacht

Joachim von Ribbentrop, Reichsaußenminister

Alfred Rosenberg, Reichsminister Ostgebiete

Fritz Sauckel, Generalbevollmächtigter „Arbeitseinsatz“ (Zwangsarbeit)

Arthur Seyß-Inquart, Reichsstatthalter Österreich , ab 1940 Reichskommissar Niederlande

Julius Streicher (Herausgeber „Der Stürmer“)

(alle gehängt am 16.10.1946, Göring: Selbstmord am 15.10.1946)

Lebenslänglich:

Walther Funk, Reichswirtschaftsminister, Reichsbankpräsident (1957 entlassen)

Rudolf Heß, Stellvertreter des „Führers“ (Schlusswort: „Ich bereue nichts“; Selbstmord im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis 1987)

Erich Raeder, Oberbefehlshaber der Kriegsmarine (1955 entlassen)

20 Jahre:

Baldur von Schirach, Reichsjugendführer (bis 1966 in Haft im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis)

Albert Speer, Rüstungsminister (bis 1966 in Haft im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis)

15 Jahre:

Konstantin von Neurath, Reichsprotektor in Böhmen und Mähren (1954 entlassen)

10 Jahre:

Karl Dönitz, Oberbefehlshaber der Kriegsmarine ab 1943 (bis 1956 in Haft)

Freigesprochen:

Hans Fritzsche, Reichspropagandaministerium

Franz von Papen, Vizekanzler und Diplomat

Die Sowjetunion und Frankreich hatten für alle 21 Angeklagten von Anfang an unterschiedslos die Todesstrafe verlangt. Die vergleichsweise große Zahl von Zeitstrafen geht auf die angelsächsischen Richter zurück, die im Sinne hatten, dass in der Weltöffentlichkeit nicht der Eindruck eines von Anfang an verabredeten Schauprozesses entstehen sollte.

Zwölf Nachfolgeprozesse in Nürnberg:

In zwölf Nachfolgeprozessen bis 1949 wurden von den US-Alliierten zahlreiche weitere Nazi-Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt und abgeurteilt. Diese Prozesse findet man unter den folgenden Überschriften:

  • Ärzte-Prozess
  • Milch-Prozess
  • Juristen-Prozess
  • Prozess gegen das Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der SS
  • Flick-Prozess
  • I.G.Farben-Prozess
  • Prozess gegen Generäle in Südosteuropa
  • Prozess gegen das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS
  • Einsatzgruppen-Prozess
  • Krupp-Prozess
  • Wilhelmstraßen-Prozess
  • Prozess gegen das Oberkommando der Wehrmacht

Diese 13 Prozesse waren die Prozesse gegen die  H a u p t – kriegsverbrecher in Nürnberg.

Daneben gab es zahlreiche weitere Prozesse, bei denen laut wikipedia im In- und Ausland insgesamt etwa 50.000 bis 60.000 Naziverbrecher verurteilt wurden. Die ca. 300.000  deutschen und österreichischen Personen, die laut dem Historiker Götz Aly wegen schwerer Kriegsverbrechen hätten abgeurteilt werden müssen, sind dagegen? nie vor Gericht gestellt und nie verurteilt worden.

Hier genannte hohe Zahl von Urteilen gegen Naziverbrecher ist also nur scheinbar hoch. Dazu kommt, dass die Strafen nach 1949 in Westdeutschland oft unglaublich gering ausfielen und viele Naziverbrecher vorzeitig aus der Haft entlassen wurden. Ferdinand von Schirach, Enkel des abgeurteilten Reichsjugendführers Baldur von Schirach, hat einmal berechnet, dass für jedes von den Nazis ermordete Opfer eine Zeitstrafe von etwa 5 Minuten  verhängt wurde.

Einer der ganz wenigen, die ihre Strafe bis zum Tode absitzen mussten, war der „Stellvertreter des Führers“ Rudolf Heß, der in seinem Schlusswort den berüchtigten Satz „ich bereue nichts“ sprach und für den eine Begnadigung nie in Frage kam. Nach mehr als 46  Jahren in Haft starb Heß 1987 im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis durch Selbstmord. Er war dort 21 Jahre lang der letzte Gefangene. Das Gefängnis wurde anschließend von den Briten abgerissen. Der ehemalige Standort wurde 2017 und 2018 zum Ziel der sogenannten „Rudolf-Heß-Gedenkmärsche“, auf deren Hauptbanner in aller Öffentlichkeit zu lesen war: „Ich bereue nichts!“ Senat, Polizei und Justiz in Berlin, im demokratischen Deutschland waren nicht willens und nicht in der Lage, diese fürchterliche Verhöhnung der Opfer zu unterbinden.

Für diesen Bericht verwendete Literatur und Quellen:

Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg. Die Reden der Hauptankläger. Neu gelesen und kommentiert. Hrsgg. vom Nürnberger Menschenrechtszentrum. Hamburg: CEP Europäische Verlagsanstalt. 2015. 501 Seiten.

Alexa Stiller und andere: NMT. Die Nürnberger Militärtribunale.

Wikipedia: „Nürnberger Prozesse“ und andere

Christian Streit: Keine Kameraden (über das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen)

Topographie des Terrors Berlin, Vortragsreihe 2018 über die 12 Nachfolgeprozesse 1946-49.

Martin Clemens Winter: Gewalt und Erinnerung im ländlichen Raum. Die deutsche Bevölkerung und die Todesmärsche.

Daniel Blatman: Die Todesmärsche 1944/45.

Ulrike Weckel: Beschämende Bilder.

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