Wie eine andere Welt nach Corona aussehen könnte
von Petra Weingärtner
Am 19.9. veranstaltete die Initiative Deutsche Wohnen & Co. Enteignen (DWE) eine Podiumsdiskussion zu dem Thema „Gemeinwirtschaft statt Marktradikalismus“ im Freiluftkino der Berliner Hasenheide mit prominenten Gästen aus verschiedenen Nicht-Regierungsorganisationen. /1/ Die Gastgeberrolle übernahm Joanna Kusiak, für ver.di erschien Susanne Feldkötter, Reiner Wild für den Berliner Mieterverein, Ulrich Schneider für den Paritätischen Wohlfahrtsverband und Olaf Bandt repräsentierte BUND. Die Diskussion leitete Ines Schwerdtner, Chefredakteurin der deutschen Ausgabe des Magazins „Jacobin“ . /2/
*Was ist unter Gemeinwirtschaft zu verstehen? Grob vereinfacht ist das Prinzip Gemeinwirtschaft dem öffentlichen Interesse (Gemeinwohl) verpflichtet und zielt nicht in erster Linie auf Gewinnstreben ab, sondern auf eine volkswirtschaftliche Bedarfsdeckung.
Einigkeit in der Unterstützung des Volksbegehrens
Gleich zu Beginn bekannten sich ver.di und der Berliner Mieterverein Unterstützer des Volksbegehrens zur Vergesellschaftung von Wohnungen zu sein, die sich im Besitz von Großkonzernen der Wohnungswirtschaft mit einem Wohnungsbestand von über 3000 Mietwohnungen befinden. Sollte die Initiative schlussendlich erfolgreich sein, dann kämen ca. 250.000 Wohnungen zurück in die Verwaltung der öffentlichen Hand, wo sie auch hingehörten. Für die 1. Stufe der Kampagne, das Volksbegehren, ist die Prüfung des Berliner Senats abgeschlossen. Nun können die Vorbereitungen für die 2. Stufe beginnen.
Ver.di-Vertreterin Susanne Feldkötter kritisierte vehement, dass gewerkschaftlich erkämpfte Lohnsteigerungen durch unverhältnismäßige Mieterhöhungen insbesondere in den urbanen Zentren sofort wieder aufgezehrt würden. Reiner Wild erhoffte sich von der Vergesellschaftung die Chance der Mieter-Mitbestimmung, eine Erweiterung des Rahmens für sicheres und besseres Wohnen und die Einleitung eines Richtungswechsels, der einen deutlichen Stopp der Gentrifizierung setzt.
Joanna Kusiak, als Stadtforscherin am King‘s College in Cambridge zur DWE gekommen, hob die Verknüpfung von Gemeinwohl und Freiheit in Berlin hervor. In Artikel 15, Grundgesetz /3/ sei eine „Vergesellschaftung“ (nicht als Verstaatlichung oder Enteignung bezeichnet) zur Überführung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft vorgesehen. Damit gehörten sie der gesamten Gesellschaft und müssten demokratisch verwaltet werden. Als einen wichtigen Grund für einen Richtungswechsel führte sie an, dass zurzeit sehr viel Geld aus dem privaten Immobiliensektor aus Berlin abfließt, anstatt hier zu zirkulieren und durch gemeinwirtschaftliches Bauen neue Arbeitsplätze, Wohnungen, Kitas und Schulen zu schaffen. Vergesellschaftung würde vielmehr menschenfreundliches Wirtschaften in Form von stabilen Arbeitsplätzen in Bauwirtschaft und Dienstleistung sowie eine umweltfreundliche energetische Umgestaltung ermöglichen, die nicht auf Kosten der Mieter geht. In Berlin könnte eine kluge und wirtschaftlich vernünftige Politik durch Gemeinwirtschaft entstehen. Mit „arm aber sexy“ wäre dann Schluss. Eine Broschüre der DWE gibt detailliert Aufschluss über ‚Vergesellschaftung und Gemeinwirtschaft‘. /4/
Gemeinsamer Appell für eine sozial-ökologische Gemeinwirtschaft
Ulrich Schneider stellte eine Kooperation zwischen Paritäter und BUND vor. Unter dem Eindruck der Corona-Pandemie brachten sie bereits im Mai diesen Jahres in einem Interview in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ihren gemeinsamen Appell für eine sozial-ökologische Gemeinwirtschaft an die Öffentlichkeit. Für sie gehören hierzu „neben der gesundheitlichen Versorgung unter anderem soziale Dienstleistungen, Bildung, Wohnungswesen und Energieversorgung“. /5/
Im Hinblick auf den Pflegesektor konstatierte Schneider, dass die zunehmende Profitorientierung total versagt habe. Vielmehr sei nicht vorhersehbar, wieviel Zeit im Einzelfall für die Pflege erforderlich ist. Die jeweilige Situation entscheidet darüber, in welchem Tempo Pflegeverrichtungen überhaupt ablaufen können oder ob ein Innehalten, Zuhören oder Händehalten nicht wesentlich wichtiger ist, als auf die vorgeschriebenen engen Zeitbudgets zu achten. Eine Renaissance der Gemeinnützigkeit als echte Alternative sei hier angebracht. Darüber seien sich inzwischen viele Sozialverbände einig.
Olaf Bandt unterstrich diese Forderungen insbesondere im Hinblick auf die Bewältigung der Corona-Pandemie sowie der Klima-Krise, die u.a. für das fortschreitenden Artensterben und die stark steigenden Bodenpreise verantwortlich sei. Auch mache die Klimakrise eine nachhaltige Landwirtschaft zunehmend unmöglich. Eine neue „Software“ für die Wirtschaft werde gebraucht, die die Gemeinschaft in den Mittelpunkt stellt und sie nicht auseinanderdividiert. Schon seit Jahrzehnten würden Bürgerinnen und Bürger in Deutschland z. B. für den Bau von Autobahnen oder den Tagebau enteignet. Bundesverkehrsminister Scheuer bezeichnet er als „Bundesenteignungs-Minister“.
Ein Richtungswechsel in der öffentlichen Daseinsfürsorge ist dringend nötig!
Wild schätzte die Chancen auf einen Richtungswechsel durch die aktuelle Regierung als äußerst gering ein. Fair wäre es, die Schwachen durch die Starken in Krisenzeiten zu unterstützen. Aber das Gegenteil ist der Fall; die Vermögenden werden an den Kosten nicht beteiligt, jeder Euro muss nachgezahlt werden. Wegen wahrscheinlich geringerer Steuereinnahmen wird aller Wahrscheinlichkeit nach sogar die soziale Wohnraumversorgung erschwert.
Schneider prophezeite ebenfalls eine Verschlechterung der sozialen Situation im nächsten Jahr, auch als Folge von Corona. Er prognostizierte Verteilungskämpfe und dass in den Kommunen Steuereinnahmen fehlen werden. Es deute sich schon heute an, dass der Staat sich aus weiteren Bereichen der Daseinsvorsorge zurückziehen wird. Im Bildungsbereich fehlen Lehrer, die stationäre Grundversorgung wird durch die Schließung von Krankenhäusern im ländlichen Raum immer weiter eingeschränkt; Leidtragende sind vor allem die Patienten. Auch für die Kultur sehe es sehr schlecht aus; „sie macht das Leben lebenswert und die Kommune erst schön, sie ist keine Schönwetter-Veranstaltung“, stellte Schneider fest. Für den Wohnungsmarkt wurden diese Fehlentwicklungen schon länger vorhergesehen.
Vorteile der Gemeinwirtschaft
Bandt sah in der Gemeinwirtschaft eine große Chance. Der Modus operandi der Politik ist immer noch der eines Reparaturmechanismus, wenn zum Beispiel die Zuschüsse für Kohle auf Windräder übertragen oder über das Wohngeld überhöhte Mieten subventioniert würden, was einer staatlichen Förderung des Finanzmarktkapitalismus im Wohnungsmarkt gleichkomme.
Auf Druck der Umweltverbände wurde im Jahr 2000 das Erneuerbare Energie-Gesetz beschlossen, wodurch nunmehr 45 % des Stroms aus erneuerbaren Energien gewonnen werden. Druck müsse nun auch den Wechsel in Richtung Gemeinwirtschaft herbeiführen. Ein Konzept wäre beispielsweise, wenn Verbraucher Strom selbst erzeugten, nicht nur für sich nutzten, sondern auch mit Nachbarn teilten. Mit solchen und ähnlichen gemeinwirtschaftlichen Ideen wäre mehr Unabhängigkeit von großen Energieversorgern möglich.
Chancen für DWE im Wahlkampf?
Feldkötter ging davon aus, dass ein zeitliches Zusammentreffen vom kommenden DWE-Volksentscheid mit der Bundestagswahl Wähler stärker mobilisieren könnte. Durch die persönliche Betroffenheit in ihrer Wohnsituation, und das gilt in Berlin ganz gewiss für die Mehrheit der Mitbürger, wären die angesprochenen Personen für politische Themen stärker sensibilisiert. Denn in persönlichen Gesprächen beim Unterschriftensammeln können systemische politische Missstände und wie sie zu heilen wären angesprochen werden.
Schneider wies auf ein neues erschwerendes „Setting“ bei der Wahl hin: zum ersten Mal seien Rassisten im Parlament, die immer dann einhaken, wenn Politik versagt. Der geplante Volksentscheid sei radikaler als die üblicherweise von der Politik gewohnten „Trippelschritte“. Ein Erfolg wäre psychologisch ungeheuer wichtig, gerade auch im Kampf gegen „Rechts“.
Wild griff die bereits angesprochene Gefahr von Verteilungskämpfen im Wahljahr auf und kündigte heftigen Gegenwind von Kritikern vor allem gegen die Kosten einer Vergesellschaftung von Wohnraum an. Das Geld, das für den Rückkauf der Wohnungen investiert werden müsste, würde nicht effektiv genug eingesetzt, so ein möglicher Vorwurf. Gegen solche und ähnliche Kritik sollten sich die Befürworter des Volksbegehrens wappnen.
Ausblick
Das gemeinsame Bekenntnis der Diskussionsteilnehmenden, Soziales, Umwelt und Wohnen unabhängig von Parteien zu gemeinsamer Stärke zu führen, sorgte auf dem Podium für Optimismus. Auch wenn der Widerstand durch die etablierten politischen und wirtschaftlichen Kräfte sicher groß sein wird, ging Kusiak davon aus, dass man ihnen nur mit vereinten Kräften und überzeugenden politischen Argumenten erfolgreich entgegen treten kann.
Der bereits begonnene Austausch müsse laut Bandt fortgesetzt und mit Ideen zu gemeinwirtschaftlichen Mieter- und Umweltperspektiven angereichert werden. Schneider schlug vor, zunächst eine mögliche Ideen- und Aufgabenverteilung im Bündnis klar zu definieren und damit nach Bündnispartnern für gemeinsame Positionen im Wahlkampf zu suchen. Feldkötter verwies auf ver.dis Positionspapier „Gutes Wohnen – Arbeiten – Leben. Aufbruch in eine solidarische Wohnungspolitik“. /6/ In den Verdi-Betriebsgruppen und Gremien werde um Beteiligung am Volksentscheid geworben. Wild hob das Bündnis „Wohnen ist Menschenrecht“ /7/ hervor, das seit 2018 besteht. Er ging davon aus, dass auch heute noch, wie dies vor einigen Jahren eine EMNID-Umfrage ergab, 90 % der Bundesbürger eine Art des Wirtschaftens befürworten, von dem nicht nur wenige Reiche, sondern alle Mitglieder der Gesellschaft profitieren. /8/. Nicht zu vernachlässigen sei seiner Meinung nach der gemeinwirtschaftliche Neubau, bei dem der Senat bisher versagt habe. Der Bedarf an gemeinwohlorientiertem Neubau sei immens, von dem erst ein Bruchteil realisiert worden sei.
Kusiak war zuversichtlich, dass mit Beteiligung eines gemeinwirtschaftlichen Bündnisses die erforderlichen 180.000 Unterschriften erreicht werden können. Sie dankte sehr herzlich allen Teilnehmern und Besuchern, die sich zum Mitmachen bereit erklärt haben. Sie wies hinsichtlich der Beteiligungsmöglichkeiten auf die Webseite der DWE /9/ hin, auf der verschiedene Arbeitsgruppen aufgelistet sind und über die Interessierte Broschüren, Sticker und Poster für die Weiterverbreitung beziehen können.
Die Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“
hat im In- und Ausland hohe Aufmerksamkeit erzielt.
Ein Erfolg in Berlin könnte dazu führen,
dass auch andere Städte und Länder zur Nachahmung ermutigt würden.
Aufstehen-berlin /10/ und die AG Aufstehen-wohnen-berlin /11/ haben sich an der Sammlung zum Volksbegehren beteiligt. Alle stehen schon jetzt in den Startlöchern, sich mit großem Engagement für den kommenden Volksentscheid einzusetzen.
Wir wollen gewinnen!
Vielen Dank an Petra für ihren Beitrag zur Veranstaltung “Gemeinwirtschaft statt Marktradikalismus” der Kampagne “Deutsche Wohnen & Co enteignen” vom 19.9.20 in der Hasenheide. Er vermittelt die vielen Gründe und Beispiele dafür, dass die gegenwärtige Art des Wirtschaftens nach neoliberalen Prämissen die gesellschaftlichen Fragen so für die Mehrheit der Menschen nicht lösen kann, sondern für Natur, gesellschaftliches Zusammenleben und die soziale Sicherheit zerstörerisch wirkt.
Die verschiedenen großen Organisationen haben hier eine aus unterschiedlichen Blickwinkeln entstandene Erkenntnis gemeinsam formuliert, dass der Markt es nicht richten kann und das eine anderes Wirtschaft entgegengesetzt werden muss!
Die Veranstaltung war ein guter Anfang, es gibt viele, die bei aufstehen für die Unterstützung der Unterschriftensammlung bei “aufstehen-berlin” bereitstehen! Lasst uns den Anstoß aus der wichtigen Veranstaltung für eine öffentliche Daseinsvorsorge über den Bereich bezahlbares Wohnen hinaus für Gesundswesen, Nahverkehr, soziale Dienstleistungen und Umwelt aufgreifen und Bündnisse für ein anderes Wirtschaften schmieden!